MID355-M020-099
Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.
jh - 12 -
Ein Gesicht einwecken wie Obst für den Winter, Fleisch für karge
Jahre, und am Ende, in den jüngsten Tagen, der penetrante Geschmack
der eisernen Ration und doch die Erdbeeren von einst, der Geruch
des Gartens, das Beet an einem Sommermorgen nach dem Gewitterregen
der Nacht, dieser Urwald kleiner Pflanzen, grüne überlappende
Blätter der Stauden die rauhgraue Gewölbe bildeten, in denen die
Erdkröte saß, und das Kind, dieser Riese, beugt sich über die Welt,
ein Gottvater, der vertreiben konnte oder gnädig gewähren lassen,
doch das eingelegte Fleisch erinnert besser nicht an das Kalb,
an seinen sanften Blick, das warme staubtrockene Fell, dies ist
die Hand, die dich streichelt, meine Hand, die das Messer nahm,
die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten wendet, das
Fleisch zum Munde führt, eine alte Schuld, vom Naturrecht
gebilligt, schließlich schon nicht mehr organisch, ein Vorgang,
wie er grauenvoll in den Gesetzbüchern steht. Sie geht über
die kleine Brücke aus morschem Holz, will zum Kastanienwall, es
ist ihr letzter Spaziergang, sie kann das nicht wissen, und auch
ich könnte es nicht, und doch sind wir gewiß in unserem
Nichtwissen, zum letzten Mal ist sie von ihrem Bett aufgestanden,
ein milder Tag wie er manchmal zwischen den Frösten kommt, der
Himmel ist reingefegt von Nebel und Schnee und bebt Unendlichkeit,
und sie erwartet das von mir, die Hilfe zum Sterben, eine
Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen Sinn
bekommen, den sie verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben
rechtfertigen, so wie ich dastand auf jener Brücke, in einem
Mantel reif für den Müll, mit lange nicht geschnittenem Haar,
existenzlos, jeder sagte: - - -
Ein Gesicht einwecken wie Obst für den Winter, Fleisch für karge
Jahre, und am Ende, in den jüngsten Tagen, der penetrante Geschmack
der eisernen Ration und doch die Erdbeeren von einst, der Geruch
des Gartens, das Beet an einem Sommermorgen nach dem Gewitterregen
der Nacht, dieser Urwald kleiner Pflanzen, grüne überlappende
Blätter der Stauden die rauhgraue Gewölbe bildeten, in denen die
Erdkröte saß, und das Kind, dieser Riese, beugt sich über die Welt,
ein Gottvater, der vertreiben konnte oder gnädig gewähren lassen,
doch das eingelegte Fleisch erinnert besser nicht an das Kalb,
an seinen sanften Blick, das warme staubtrockene Fell, dies ist
die Hand, die dich streichelt, meine Hand, die das Messer nahm,
die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten wendet, das
Fleisch zum Munde führt, eine alte Schuld, vom Naturrecht
gebilligt, schließlich schon nicht mehr organisch, ein Vorgang,
wie er grauenvoll in den Gesetzbüchern steht. Sie geht über
die kleine Brücke aus morschem Holz, will zum Kastanienwall, es
ist ihr letzter Spaziergang, sie kann das nicht wissen, und auch
ich könnte es nicht, und doch sind wir gewiß in unserem
Nichtwissen, zum letzten Mal ist sie von ihrem Bett aufgestanden,
ein milder Tag wie er manchmal zwischen den Frösten kommt, der
Himmel ist reingefegt von Nebel und Schnee und bebt Unendlichkeit,
und sie erwartet das von mir, die Hilfe zum Sterben, eine
Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen Sinn
bekommen, den sie verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben
rechtfertigen, so wie ich dastand auf jener Brücke, in einem
Mantel reif für den Müll, mit lange nicht geschnittenem Haar,
existenzlos, jeder sagte: - - -