MID355-M020-089

Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.

Archivmappe
MID355-M020
Absolute Datierung
21.6.1976
Zuordnung
1 Publikation: "Eine Jugend II" (BR 1976)
Kopie
ja
Durchschlag
nein
jh - 2 -
die Bettstellen mit gedrechselten Schwanenhälsen, es schliefen
die gebrochenen Brokate der Sessel im Salon, die speckigen
Lederstühle der Bibliothek mit der Rangliste der Königlich
Preußischen Armee, dem Jagdkalender, Bismarcks Erinnerungen, und
irgendwie dahingeraten und vergessen das Buch der Lieder, die
Bilder der Toten, ihre Säbel, ihre Pistolen, ihre Ehre an der
Wand, ein Hund trottete durch den Sand, er kannte uns nicht, eine
Pflugschar rostete, und meine Mutter sprach, es gehörte uns,
schrie es, als wolle sie es mir einhämmern, in den Kopf pressen,
ins Herz schlagen, daß auch ich teilhabe an Verlust und Leid, sie
sollten mein Erbe sein, denn obwohl meine Mutter schon in der
Stadt geboren war, in der engen Kammer der Armut, redete sie von
Ephraimshagen mit der Bitterkeit, beraubt zu sein, und ich
erkannte wieder in ihrem kleinen, von Müdigkeit verzehrten
Gesicht der Großmutter verhärmte Züge, sah aber auch im jungen
Gesicht meiner Mutter der Großmutter Brautbild erscheinen mit dem
wie Spinnweb das Haupt deckenden Schleier, von einem wandernden
Pinsler getuscht, einem verachteten Gesellen, der mit den Mägden
gegessen und wohl auch die Decken und Wände des Hauses mit
klassischen Ornamenten geziert hatte und den frivolen fröstelnden
Gestalten der Götter auf Wolken geschorener Wolle, der uralten
Verführung, doch Zauber blieb es, wie er das im Kommenden
Verborgene, die Liebesenttäuschung, den Trug der Leidenschaft, all
den Verfall um das Brautlächeln und das geschmückte Haar der
Achtzehnjährigen gelegt hatte, und ich schaute auch die Großmutter
wie ich sie wahrgenommen hatte mit Säuglingssinnen, ihr zu Tränen
bereites Gesicht mit dem nun schon gewollten und erstarrten
Ausdruck vergeblichen Grübelns, so beugte sie sich über den Korb,
in dem ich lag, schenkte mir Liebe und Haß, ich empfand ihre aus
meinem Anblick sich nährende und tödlich wuchernde Verzweiflung,