MID355-M020-088
Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.
BAYERISCHER RUNDFUNK Sendung: Montag, 21. Juni 1976
Literarische Abteilung 14.30 - 15.00 Uhr Bayern II
Zeilenzahl: 363
Eine Jugend (2)
Erzählung von Wolfgang Koeppen
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. An warmen Sommertagen gingen
wir durch das Rosental, die bei Sturmfluten vom Meer überspülte
Flur auf brackigem Grund, das Gut zu sehen, Ephraimshagen mit
seiner abweisenden gekalkten Mauer, der junkerlichen
Auffahrtsallee, dem Säulenportal von dorisch-preußischer Strenge,
der bröckelnden traurigen Sandsteinheiterkeit der hier wie im
Stundenglas des Sensenmannes sichtbar verrieselnden Zeit, der
stolzen albernen Herrschsucht des Herrenhauses, dem ungestürzten
Gesindekönigtum, der alten Reserverittmeisterherrlichkeit zwischen
den Ställen, der schwarzweiß gestrichenen Fahnenstange und ihren
auf Halbmast gesetzten alldeutschen Träumen, ein Hahn krähte auf
dem Mist, aus prallen Eutern säuerte Milch, Zeugung drängte zur
Schlachtung, Spiritus fuselte aus den Bottichen der Brennerei,
leer gähnten die geöffneten Fenster im Mittagslicht, weiß blühten
gesteifte Stores, es glänzten die fuchsrot polierten Möbel
pommerschen Empires, die schweren blanken Schränke mit Säulen
und goldenen Beschlägen, die Kommoden mit Lorbeer und Girlanden,
Literarische Abteilung 14.30 - 15.00 Uhr Bayern II
Zeilenzahl: 363
Eine Jugend (2)
Erzählung von Wolfgang Koeppen
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. An warmen Sommertagen gingen
wir durch das Rosental, die bei Sturmfluten vom Meer überspülte
Flur auf brackigem Grund, das Gut zu sehen, Ephraimshagen mit
seiner abweisenden gekalkten Mauer, der junkerlichen
Auffahrtsallee, dem Säulenportal von dorisch-preußischer Strenge,
der bröckelnden traurigen Sandsteinheiterkeit der hier wie im
Stundenglas des Sensenmannes sichtbar verrieselnden Zeit, der
stolzen albernen Herrschsucht des Herrenhauses, dem ungestürzten
Gesindekönigtum, der alten Reserverittmeisterherrlichkeit zwischen
den Ställen, der schwarzweiß gestrichenen Fahnenstange und ihren
auf Halbmast gesetzten alldeutschen Träumen, ein Hahn krähte auf
dem Mist, aus prallen Eutern säuerte Milch, Zeugung drängte zur
Schlachtung, Spiritus fuselte aus den Bottichen der Brennerei,
leer gähnten die geöffneten Fenster im Mittagslicht, weiß blühten
gesteifte Stores, es glänzten die fuchsrot polierten Möbel
pommerschen Empires, die schweren blanken Schränke mit Säulen
und goldenen Beschlägen, die Kommoden mit Lorbeer und Girlanden,