MID355-M006-006

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MID355-M006
Absolute Datierung
-
Zuordnung
22
Kopie
nein
Durchschlag
ja
Meine Mutterkommt, mich abzuholen. Die Tür öffnet sich,
meine Mutter tritt durch die Tür in den Krankensaal, sie
schließt die Tür hinter sich, der graue Anstrich ist von
der Tür abgesprungen, die Sprünge bilden das Delta eines
Flusses, meine Mutter steht wie vor einer Landkarte, vor
einem großen Maßstab, sie kommt nicht auf mich zu, sie
blickt mich an, sie wirkt schüchtern, irgendein graues
Wesen, das von der grauen Tür eingefangen wird, sie er-
schrickt, ich bin es, der sie zu erschrecken scheint, mein
Anblick, ich merke es, sie zögert vor der Front der Betten
sie blickt weg von mir, schaut auf die Betten, ich spüre
meine Schwäche, wie kann sie mich liebhaben, ich vermag
mich kaum auf den Beinen zu halten, ich verheddere mich
in dem langen blauweiß gestreiften preußischen Barchent-
hemd. Der Saal schwankt wie ein Schiff auf hoher See, die
Betten, der Kaiser, Hindenburg, Ludendorff beginnen zu
tanzen, ich will meiner Mutter entgegen laufen, ich fühle
mich fallen, ich falle gegen meine Mutter, ich presse meinen
Kopf gegen ihren Leib, ich kann ihn umfassen, er ist schmal,
ich höre mich schluchzen, doch ich beherrsche mich, ich
bin kein Produkt der Manneszucht, ich komme aus einem fernen
Land, ich bin der standhafte Zinnsoldat aus einer fernen
Zeit, ich bleibe stehen, ich bleibe aufrecht stehen, ich
betrachte meine Mutter, ich blicke nicht weg, ich erspare
ihr nicht den Weg, ich lasse sie langsam vor der geraden
Reihe der vorschriftsmäßig gebauten Betten Spießruten lau-
fen, ich sehe sie klein auf mich zukommen, wie durch ein
umgekehrtes Fernrohr und bin selber ein kleiner ein auf-
einmal boshafter ein militärischer Beobachter: ich gebe
meiner Mutter die Schuld, daß wir beide hier stehen.