Satzvorlage Seite 112
Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.
112
Anamnese 259
denen die Erdkröte saß, und das Kind, dieser Riese, beugt sich über die /Velt,
ein Cottvater, der vertreiben konnte oder gnädig gewähren lassen, doch das
eingelegte Fleisch erinnert besser nicht an das Kalb, an seinen sanften Blick,
das warme staubtrockene Fell, dies ist die Hand, die dich streichelte, meine
Hand, die das Messer nahm, die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten
wendet, das Fleisch zum Munde führt, eine alte Schuld, vom Naturrecht gebil-
ligt, schließlich schon nicht mehr organisch, ein Vorgang, wie er grauenvoll in
den Cesetzbüchern steht. Sie geht über die kleine Brücke aus morschem Holz,
will zum Kastanienwall, es ist ihr letzter Spaziergang, sie kann das nicht wis-
sen, und auch ich könnte es nicht, und doch sind wir gewiß in unserem Nicht-
wissen, zum letzten Mal ist sie von ihrem Bett aufgestanden, ein milder Tag
wie er manchmal zwischen den Frösten kommt, der Himmel ist reingefegt von
Nebel und Schnee und bebt Unendlichkeit, und sie erwartet das von mir, die
Hilfe zum Sterben, eine Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen
Sinn bekommen, den sie verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben rechtfertigen,
so wie ich dastand auf jener Brücke, in einem Mantel reif für den Müll, mit
lange nicht geschnittenem Haar, existenzlos, jeder sagte: ohne Zukunft, doch es
ist ein ort nur, ein Blick vielleicht, selbst eine kleine zurückhaltende Cebärde
meiner Hand in den zerrissenen Handschuhen, auf die sie hofft, und ich sage
nichts, kein Wort, ich blicke sie an und blicke sie nicht an, ich bewege mich
nicht und bewege mich, nicht auf sie zu, mehr von ihr weg, ich weiß das alles,
ich unterdrücke sogar mühsam ein Weinen, und doch ist die Begegnung mir
hinderlich, hält mich auf, lenkt mich ab, von was, von nichts, ich weiß es nicht
und merke, dies prägt sich mir ein, und vielleicht redete ich dann, viel, unsin-
nig, blickte umher wie in die Enge getrieben, auf zum Himmel, mir ähnlich, er
schwieg, von der Brücke hinunter zum schmutzigen Eis des Ryckgrabens, stellte
mit erregten Gesten etwas dar, was meiner Emp ndung völlig widersprach.
Der Reif ist um die Brust gelegt, es brennen die Augen, die feucht werden, es
brennt die Hand, die erstarrt, wie sehr das schmerzt, denn ich spürte nichts, es
war nicht mein Tod, der sich im Eishaus der Sträucher unter den kahlen Kasta-
nien entkleidete, ich verließ sie schon oder ließ sie mich verlassen, Iphigenie,
wie üblich, auch wenn ich ihr den Arm reichte, sie heimführte oder so tat und
an das Geschäft dachte, das ich nicht habe.
Ende
Anamnese 259
denen die Erdkröte saß, und das Kind, dieser Riese, beugt sich über die /Velt,
ein Cottvater, der vertreiben konnte oder gnädig gewähren lassen, doch das
eingelegte Fleisch erinnert besser nicht an das Kalb, an seinen sanften Blick,
das warme staubtrockene Fell, dies ist die Hand, die dich streichelte, meine
Hand, die das Messer nahm, die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten
wendet, das Fleisch zum Munde führt, eine alte Schuld, vom Naturrecht gebil-
ligt, schließlich schon nicht mehr organisch, ein Vorgang, wie er grauenvoll in
den Cesetzbüchern steht. Sie geht über die kleine Brücke aus morschem Holz,
will zum Kastanienwall, es ist ihr letzter Spaziergang, sie kann das nicht wis-
sen, und auch ich könnte es nicht, und doch sind wir gewiß in unserem Nicht-
wissen, zum letzten Mal ist sie von ihrem Bett aufgestanden, ein milder Tag
wie er manchmal zwischen den Frösten kommt, der Himmel ist reingefegt von
Nebel und Schnee und bebt Unendlichkeit, und sie erwartet das von mir, die
Hilfe zum Sterben, eine Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen
Sinn bekommen, den sie verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben rechtfertigen,
so wie ich dastand auf jener Brücke, in einem Mantel reif für den Müll, mit
lange nicht geschnittenem Haar, existenzlos, jeder sagte: ohne Zukunft, doch es
ist ein ort nur, ein Blick vielleicht, selbst eine kleine zurückhaltende Cebärde
meiner Hand in den zerrissenen Handschuhen, auf die sie hofft, und ich sage
nichts, kein Wort, ich blicke sie an und blicke sie nicht an, ich bewege mich
nicht und bewege mich, nicht auf sie zu, mehr von ihr weg, ich weiß das alles,
ich unterdrücke sogar mühsam ein Weinen, und doch ist die Begegnung mir
hinderlich, hält mich auf, lenkt mich ab, von was, von nichts, ich weiß es nicht
und merke, dies prägt sich mir ein, und vielleicht redete ich dann, viel, unsin-
nig, blickte umher wie in die Enge getrieben, auf zum Himmel, mir ähnlich, er
schwieg, von der Brücke hinunter zum schmutzigen Eis des Ryckgrabens, stellte
mit erregten Gesten etwas dar, was meiner Emp ndung völlig widersprach.
Der Reif ist um die Brust gelegt, es brennen die Augen, die feucht werden, es
brennt die Hand, die erstarrt, wie sehr das schmerzt, denn ich spürte nichts, es
war nicht mein Tod, der sich im Eishaus der Sträucher unter den kahlen Kasta-
nien entkleidete, ich verließ sie schon oder ließ sie mich verlassen, Iphigenie,
wie üblich, auch wenn ich ihr den Arm reichte, sie heimführte oder so tat und
an das Geschäft dachte, das ich nicht habe.
Ende