MID355-M002-006

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MID355-M002
Absolute Datierung
19.4.1963
Zuordnung
Notiz ausgewählte Notiz
Kopie
nein
Durchschlag
nein
19.4.1963
Versuch zu einer Aufhebung der Zeit, zu einer Gleichzeitigkeit
allen Geschehens zu kommen, indem jeder Vorgang gegenwärtig
als jetzt und hier und in diesem Augenblick sich ereignend
beschrieben wird. Esm gibt kein Vor- und kein Nachher, keine
Vergangenheit und keine Zukunft. Oder anders: die Zukunft von
1963 ist schon in den Ereignissen von 1910 festgelegt, darf und nicht
1963 trägt schwer an der Vergangenheit von 1910. Man kann darf nicht nie.
mals mehr sagen, er tat dies und dann tat er das und sofort. Er tut
immer nur, und die Zeit ist eine geleugnete oder eine unab-
hängige, jedenfalls eine Grösse, die dadurch nicht unheimlicher
wird, dass man sie ignoriert. Ich tue dies jetzt, ich bin er-
wachsen, ich bin alt, aber ich tue es genauso jetzt, dass ich
als Kind zum Bahnhof laufe und nach Amerika auswandern will.
Ebenso tut Bismarck etwas, tut es jetzt, während ich hier jetzt
sitze oder gehe, spreche oder schweige.
Das Ich braucht keinen Namen zu haben. Aber wer ist Er? Von
ihm zu sprechen, ohne ihm einen Namen zu geben, heisst, ihn mit
allen verwechseln.
Dass radikale und konsequente Heute der Vergangenheit ist für
den Stil ebenso schwierig wie tückisch. Die Person verliert
ihre Perspektive, gewinnt aber an Nähe, vielleicht auch an
Fläche. Natürlich hat ein Roman dieser Art etwas Hoffnungslo-
ses und Deprimierendes. Mit der Vergangenheit schwindet auch
die Zukunft. Es ist alles eins und gleich, aber doch rücksichts-
los mit den Augen jedes Individiums gesehen. Die Bewegungen sind
gelähmt, dennoch geschieht etwas, ohne dass man es als Aktivi-
tät wahrnehmen könnte. Man könnte den konservativen Roman eine
Sinngebung des Sinnlosen nennen, diese Versuche dagegen als die
Sinnlosigkeit eines Seins. Es ist eine Form, die (wie jede an-
dere) nach einem grossen Inhalt verlangt.