MID355-M001-065

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MID355-M001
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment 6
Kopie
nein
Durchschlag
nein

Ich entsinne mich sehr genau des Gesichts meiner Grossmutter,
wie es über meiner Wiege erschien, aber, ich glaube, ich hatte
keine Wiege, es war vielleicht ein Korb oder eine Kiste, ich
weiss es nicht, über mir erschien, ein bleicher Mond, wenn ich
den Mond schon gesehen hätte, der Mond ging auf, er blieb
über mir, Vollmond, aber nicht gross, er betrachtete mich, und
ich betrachtete ihn, es war ein trauriger Moment, wir waren uns
beide der Wehmut bewusst, die unsere Blicke zueinander trug,
und der bleiche kleine Mond hatte seine Mondlandschaft, Mond-
täler des Grams, Mondkrater für die Augen, da man den Gram ja
wollte, hatte man ihn festgehalten, eine Bestrafung dafür, dass
man über den Zaun gesprungen war, über die Gitter des Herkommens,
verlockt von Unordnung, die aus der Ordnung gesehen und für
einen Moment der Betörung paradiesisch geschienen hatte, dann
aber, als der Sprung geschehen war, als der Fuss aufsetzte,
in der Freiheit, und schon etwas gebrochen war, der Leichtsinn,
der Entschluss, der Mut, die Freude, erkannte sie, die eine
Bäueren war, wenn auch von den Gütern her, das brache Land,
den brakigen Grund, Unkraut, Kriechgetier. Warum war die Sumpf-
dotterblume nichts wert? Meine Grossmutter hat darüber nicht
nachgedacht. Ihr war Unkraut Unkraut. Auch wenn es sie durch-
rankte und sie mit ihm ausgerissen gejätet wurde. Ich fragte gleich,
was ist das, Unkraut, wer erfand den Namen, wer gab ihm wen,
wer hatte das Recht? Wer Unkraut sagt, nimmt noch den Schindanger
hin, auf den er zu liegen kommt. Ich fand die Sumpfdotterblume
schön vor allen Blumen und weidete ergötzte mich früh schon an ihrem
prächtigen lateinischen Namen: caltha palustres.