MID002-003
Wolfgang Koeppen: „Als ich Gammler war“, in: der literat. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Ausgabe 8 August 1970, 148-150.
vergessen. Ich sah es wuchern. Ich ahnte es. Im Abteil
für Reisende mit Traglasten. Es war eine Pause. Sie
hatten mich nicht. Es gab kein Entfliehen.
Stettin roch nach Heringen, doch auch nach Ertrun-
kenen. Die Schiffe lagen vor dem Bahnhof. Der Weg
nach Indien war frei. Die Ertrunkenen gingen über
die Lastadie, eine Uferstraße. Es waren Kneipen da,
mit glühendem Ofen, warm und heimelig. Es gab
Grog gegen den steifen Wind. Ich trank keinen Grog.
Ich mochte ihn nicht.
Die Jugendherberge war auf dem Dachboden einer
Schule, einem großen Gebäude aus rotem Backstein,
und der Herbergsvater hatte mich in der Herberge
und in der Schule eingeschlossen und war fortgegan-
gen, und ich lag allein auf dem Dachboden und auf
einem der hundert Betten, ich hatte kein Licht, und
nur der Mond schien durch die Mansarden. Da hörte
ich ihn. Er kam langsam die Treppe rauf, nicht
schleichend, ruhig. Ich sah ihn im Dämmerlicht am
Ende des Schlafsaals, einen Mann mit einem Jäger-
hut, einem Lodenmantel und mit angeschnallten Le-
dergamaschen über seinen Schuhen. Ich stand auf
und lief zur anderen Seite des Raumes, zur Treppe,
die dort hinunterführte, ich eilte über die Stufen und
im Gang unten, der Treppe mit Treppe verband, da
stand er wieder, auf seiner Seite, mit Jägerhut und
Lodenmantel und ledernen Gamaschen, und so im
zweiten Stock und im ersten und im Parterre, und ich
stürmte in ein Klassenzimmer und rückte eine Schul-
bank vor die Tür und hörte seinen Schritt und wie er
stehen blieb, und ich hörte ihn nicht mehr. Ich saß
in einer Schulbank, und ich war ein Schüler und vor
dem Examen. Ich ging an die Schultafel und schrieb
mit Kreide an die Tafel Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit. Es machte sich gut. Ich war beruhigt. Ich
öffnete ein Fenster und sprang in den Hof.
Die Schiffe fuhren nicht nach Indien. Die Schiffe
lagen still. In der Paritätischen Heuerstelle saßen die
Seeleute und warteten auf ein Schiff. Sie warteten
lange, und einige warteten nur noch so, an sich, um des
Wartens willen. Es ging kein Schiff irgendwohin. Der
Beamte hinter dem Schalter sagte, es ist zwecklos. Er
sagte, fahr nach Hause. Ich sagte, ich habe kein Zu-
hause. Er trug mich in sein Buch ein und gab mir eine
Karte. Auf der Karte war ich ein Jungmann. Ich
hatte einen Beruf. Ich war ein Prolet. Ich setzte mich
zu den Genossen. Aber auch die Genossen sagten, laß
dir die Haare schneiden; sie machten den Witz mit der
Krankenkasse. Sie waren Bürger. Sie waren Bürger
ohne Haus und ohne Besitz. Sie waren Bürger für
nichts und wieder nichts. Sie waren geduldig. Sie nah-
men es hin. Sie enttäuschten mich. Ich hätte nicht
lange bei ihnen gesessen; sie mißtrauten mir; auch
hatte ich nichts zu essen und wieder kein Obdach.
Da kam ein Mann in die Heuerstelle, der von den
Armen lebte. Er ähnelte etwas dem Jäger aus der
Nacht in der Jugendherberge. Er war sein Bruder. Er
war nicht unheimlich; er war durchtrieben. Er nahm
sich einen Matrosen, setzte ihn auf einen Stuhl,
beugte sich über ihn und sagte, schlafe, schlafe, und
der Matrose schloß die Augen, sein festes Gesicht
war ohne Gedanken, und der Mann sagte, heb den
Arm, der Matrose hob den Arm, der Mann sagte, du
kannst den Arm nicht senken, du kannst ihn nicht
runterkriegen, und der Matrose konnte es nicht. Da
sagte der Mann, du bist ein Esel, und der Matrose
scharrte mit den Füßen und schrie wie ein Esel. Die
Männer lachten; nur ich lachte nicht. Doch mehr war
mit dem Matrosen nicht zu erreichen, und der Hyp-
notiseur weckte ihn auf.
Der Mann sah mich an. Vielleicht sah er mich an,
weil ich nicht gelacht hatte. Er sagte, komm her. Ich
setzte mich auf den Stuhl, und er blickte mir in die
Augen, und ich sah in seinem Gesicht den Hunger,
die Not und die Furcht und die Verderbnis, er faulte,
sein Atem roch übel wie er schlaf, schlaf, schlaf
sagte, und er strengte sich an, Schweiß trat auf seine
Stirn, und es wollte ihm nicht gelingen. Da hatte ich
Mitleid mit ihm, stand auf, stellte mich auf den
Stuhl und rief, Lenin spricht zu euch, erhebt euch,
zerbrecht eure Ketten. Der Hypnotiseur erhob seine
Arme, wach auf, rief er, wach auf, komm runter, was
anderes. Er blickte mich fragend an. Das geht nicht,
zischte er mir ins Ohr. Er massierte mir die Schläfen,
streichelte mich und befahl mir, du bist Jesus, stehe,
auf und wandele. Ich ging zu den Seeleuten mit
einem heiligen Schritt, sie wichen zurück, und ich
segnete sie. Sie waren ergriffen. Ich wollte lachen, aber
da ergriff es auch mich. Ich war nicht hypnotisiert,
ich tat nur so, doch war etwas geschehen, ein Funke
war übergeschlagen.
Wir gingen am Abend und gingen jeden Abend über
die Lastadie, wir gingen am Bollwerk entlang, vorbei
an den liegenden Schiffen, dem Eis auf dem Wasser,
fern von Indien, wir gingen von Kneipe zu Kneipe, ich
ging hinein, mischte mich unter die Angetrunkenen,
bestellte etwas, rührte es aber nicht an, dann kam
er, mein Meister, bat um Aufmerksamkeit, schläferte
einen ein, ließ ihn der Esel sein, rief mich dann auf,
wählte mich aus der Menge, zum Schluß, blickte mir in
die Augen, gab mir den faulen Atem, streichelte mich.
Er hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus und ging
unter die Säufer und unter die Huren und unter die
Armen, und ich segnete sie und sprach zu ihnen und
gab ihnen Bibelworte, und es war still in der Kneipe,
man hörte nur das Geld in den Teller fallen, wenn
mein Meister die Kollekte machte.
Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenommen.
Sie war ein Mädchen aus einer Kneipe. Ich lag in ih-
rem Bett, in ihrer engen Kammer, sie zog sich aus,
ich sah sie nackt im stockfleckigen Spiegel, ich sah in
dieser Scherbe, daß sie mager war, ein hungriges
Kind, und sie sah, daß ich sie ansah, sie deckte Brust
und Scham mit der Hand, wandte sich ab, ging zu
einem Pappkoffer und holte ein Hemd heraus, ein
langes weißes Hemd aus kräftigem Leinen mit langen
Armen, sie zog es an, es reichte bis zu den Füßen,
sie sagte, das ist mein Sterbehemd, sie legte sich neben
mich, wir schliefen und berührten uns nicht, und es
dauerte acht Nächte oder mehr.
Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief, ein Jung-
mann für Dampfer Eddy nach Finnland. Ich reichte
ihm meine Karte. Er heuerte mich an. Der Arzt griff
nach meinem Geschlecht. Er sagte, hüte dich vor den
Weibern. Er hatte Schmisse in einem blau-roten Ge-
sicht. Sein Auge zwinkerte. Der Dampfer Eddy ging
auf Fahrt. Ein Eisbrecher brachte uns durch das Haff.
Ich sah die große, graue See. Eine unendliche Grab-
platte wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten, Versenkun-
gen, Bombardierungen. Ich sah die großen Unter-
gänge, die kommen sollten.
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für Reisende mit Traglasten. Es war eine Pause. Sie
hatten mich nicht. Es gab kein Entfliehen.
Stettin roch nach Heringen, doch auch nach Ertrun-
kenen. Die Schiffe lagen vor dem Bahnhof. Der Weg
nach Indien war frei. Die Ertrunkenen gingen über
die Lastadie, eine Uferstraße. Es waren Kneipen da,
mit glühendem Ofen, warm und heimelig. Es gab
Grog gegen den steifen Wind. Ich trank keinen Grog.
Ich mochte ihn nicht.
Die Jugendherberge war auf dem Dachboden einer
Schule, einem großen Gebäude aus rotem Backstein,
und der Herbergsvater hatte mich in der Herberge
und in der Schule eingeschlossen und war fortgegan-
gen, und ich lag allein auf dem Dachboden und auf
einem der hundert Betten, ich hatte kein Licht, und
nur der Mond schien durch die Mansarden. Da hörte
ich ihn. Er kam langsam die Treppe rauf, nicht
schleichend, ruhig. Ich sah ihn im Dämmerlicht am
Ende des Schlafsaals, einen Mann mit einem Jäger-
hut, einem Lodenmantel und mit angeschnallten Le-
dergamaschen über seinen Schuhen. Ich stand auf
und lief zur anderen Seite des Raumes, zur Treppe,
die dort hinunterführte, ich eilte über die Stufen und
im Gang unten, der Treppe mit Treppe verband, da
stand er wieder, auf seiner Seite, mit Jägerhut und
Lodenmantel und ledernen Gamaschen, und so im
zweiten Stock und im ersten und im Parterre, und ich
stürmte in ein Klassenzimmer und rückte eine Schul-
bank vor die Tür und hörte seinen Schritt und wie er
stehen blieb, und ich hörte ihn nicht mehr. Ich saß
in einer Schulbank, und ich war ein Schüler und vor
dem Examen. Ich ging an die Schultafel und schrieb
mit Kreide an die Tafel Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit. Es machte sich gut. Ich war beruhigt. Ich
öffnete ein Fenster und sprang in den Hof.
Die Schiffe fuhren nicht nach Indien. Die Schiffe
lagen still. In der Paritätischen Heuerstelle saßen die
Seeleute und warteten auf ein Schiff. Sie warteten
lange, und einige warteten nur noch so, an sich, um des
Wartens willen. Es ging kein Schiff irgendwohin. Der
Beamte hinter dem Schalter sagte, es ist zwecklos. Er
sagte, fahr nach Hause. Ich sagte, ich habe kein Zu-
hause. Er trug mich in sein Buch ein und gab mir eine
Karte. Auf der Karte war ich ein Jungmann. Ich
hatte einen Beruf. Ich war ein Prolet. Ich setzte mich
zu den Genossen. Aber auch die Genossen sagten, laß
dir die Haare schneiden; sie machten den Witz mit der
Krankenkasse. Sie waren Bürger. Sie waren Bürger
ohne Haus und ohne Besitz. Sie waren Bürger für
nichts und wieder nichts. Sie waren geduldig. Sie nah-
men es hin. Sie enttäuschten mich. Ich hätte nicht
lange bei ihnen gesessen; sie mißtrauten mir; auch
hatte ich nichts zu essen und wieder kein Obdach.
Da kam ein Mann in die Heuerstelle, der von den
Armen lebte. Er ähnelte etwas dem Jäger aus der
Nacht in der Jugendherberge. Er war sein Bruder. Er
war nicht unheimlich; er war durchtrieben. Er nahm
sich einen Matrosen, setzte ihn auf einen Stuhl,
beugte sich über ihn und sagte, schlafe, schlafe, und
der Matrose schloß die Augen, sein festes Gesicht
war ohne Gedanken, und der Mann sagte, heb den
Arm, der Matrose hob den Arm, der Mann sagte, du
kannst den Arm nicht senken, du kannst ihn nicht
runterkriegen, und der Matrose konnte es nicht. Da
sagte der Mann, du bist ein Esel, und der Matrose
scharrte mit den Füßen und schrie wie ein Esel. Die
Männer lachten; nur ich lachte nicht. Doch mehr war
mit dem Matrosen nicht zu erreichen, und der Hyp-
notiseur weckte ihn auf.
Der Mann sah mich an. Vielleicht sah er mich an,
weil ich nicht gelacht hatte. Er sagte, komm her. Ich
setzte mich auf den Stuhl, und er blickte mir in die
Augen, und ich sah in seinem Gesicht den Hunger,
die Not und die Furcht und die Verderbnis, er faulte,
sein Atem roch übel wie er schlaf, schlaf, schlaf
sagte, und er strengte sich an, Schweiß trat auf seine
Stirn, und es wollte ihm nicht gelingen. Da hatte ich
Mitleid mit ihm, stand auf, stellte mich auf den
Stuhl und rief, Lenin spricht zu euch, erhebt euch,
zerbrecht eure Ketten. Der Hypnotiseur erhob seine
Arme, wach auf, rief er, wach auf, komm runter, was
anderes. Er blickte mich fragend an. Das geht nicht,
zischte er mir ins Ohr. Er massierte mir die Schläfen,
streichelte mich und befahl mir, du bist Jesus, stehe,
auf und wandele. Ich ging zu den Seeleuten mit
einem heiligen Schritt, sie wichen zurück, und ich
segnete sie. Sie waren ergriffen. Ich wollte lachen, aber
da ergriff es auch mich. Ich war nicht hypnotisiert,
ich tat nur so, doch war etwas geschehen, ein Funke
war übergeschlagen.
Wir gingen am Abend und gingen jeden Abend über
die Lastadie, wir gingen am Bollwerk entlang, vorbei
an den liegenden Schiffen, dem Eis auf dem Wasser,
fern von Indien, wir gingen von Kneipe zu Kneipe, ich
ging hinein, mischte mich unter die Angetrunkenen,
bestellte etwas, rührte es aber nicht an, dann kam
er, mein Meister, bat um Aufmerksamkeit, schläferte
einen ein, ließ ihn der Esel sein, rief mich dann auf,
wählte mich aus der Menge, zum Schluß, blickte mir in
die Augen, gab mir den faulen Atem, streichelte mich.
Er hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus und ging
unter die Säufer und unter die Huren und unter die
Armen, und ich segnete sie und sprach zu ihnen und
gab ihnen Bibelworte, und es war still in der Kneipe,
man hörte nur das Geld in den Teller fallen, wenn
mein Meister die Kollekte machte.
Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenommen.
Sie war ein Mädchen aus einer Kneipe. Ich lag in ih-
rem Bett, in ihrer engen Kammer, sie zog sich aus,
ich sah sie nackt im stockfleckigen Spiegel, ich sah in
dieser Scherbe, daß sie mager war, ein hungriges
Kind, und sie sah, daß ich sie ansah, sie deckte Brust
und Scham mit der Hand, wandte sich ab, ging zu
einem Pappkoffer und holte ein Hemd heraus, ein
langes weißes Hemd aus kräftigem Leinen mit langen
Armen, sie zog es an, es reichte bis zu den Füßen,
sie sagte, das ist mein Sterbehemd, sie legte sich neben
mich, wir schliefen und berührten uns nicht, und es
dauerte acht Nächte oder mehr.
Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief, ein Jung-
mann für Dampfer Eddy nach Finnland. Ich reichte
ihm meine Karte. Er heuerte mich an. Der Arzt griff
nach meinem Geschlecht. Er sagte, hüte dich vor den
Weibern. Er hatte Schmisse in einem blau-roten Ge-
sicht. Sein Auge zwinkerte. Der Dampfer Eddy ging
auf Fahrt. Ein Eisbrecher brachte uns durch das Haff.
Ich sah die große, graue See. Eine unendliche Grab-
platte wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten, Versenkun-
gen, Bombardierungen. Ich sah die großen Unter-
gänge, die kommen sollten.
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