MID355-M033-005I

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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MID355-M033
Absolute Datierung
-
Zuordnung
51 Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
844 Wolfgang Koeppen
überhaupt beachtet haben sollte, schien mir so unwahrscheinlich, daß ich in
ihren trübe schimmernden Augen Irrsinn zu lesen glaubte, und der Klatsch
kam mir wie ein von ihr, weil sie ja wahnsinnig war, verbreitetes Märchen vor.
Fräulein Mannhart warf mir meine Karte zu, widerwillig, und wie über meine
Existenz empört. Ich ging durch die Flügeltür in das Foyer, der noch leere Zu-
schauerraum lag hinter den offenen Türen wie eine dämmrige Höhle da und
versprach Zuflucht. Ich floh nicht. Ich nützte die Zuflucht nicht. Ich war nicht
unschuldig. Ich war mir meiner langen, nie geschnittenen Haare, meines zer-
rissenen, meines schmutzigen, meines einzigen Anzugs, seiner geflickten Ärmel,
der zu kurzen und ausgefransten Hose, meiner bis zum Oberleder schiefgetre-
tenen Absätze und der Löcher in meinen Schuhen bewußt, und ich stellte mich
an den sichtbarsten Punkt des Wandelganges, wo meine schäbige Erscheinung
von drei Spiegeln multipliziert wurde, wie ein nicht zu übersehendes Denkmal
hin. Dieser Standort erlaubte mir, die Theaterbesucher zu beobachten sie zu
irritieren und zu verachten. Da kamen die Geschäftsleute, die Ladenbesitzer,
unsere Gläubiger, die den beliebten Schauspielern Freßkörbe schickten, weil
dies Mode geworden war in der Stadt und sie sich, wurde der Korb auf der
Bühne überreicht, als Mäzene der Kunst fühlen konnten, nach fettem Abend-
brot im Sonntagsstaat, und ihre Damen versuchten, durch Schmuck und Klei-
derpracht die Frauen der Professoren in der Gunst des öffentlichen Ansehens
zu schlagen, ein Kampf, der nicht gewonnen wurde, denn die Angegriffenen
der akademischen Gesellschaft hatten sich in taubengraue Schlichtheit gehüllt,
in Tarnkleider, die ihre Mittellosigkeit in bare Vornehmheit verwandelten. Ich
musterte sie streng, aber ich hoffte, das Fräulein von Lössin zu sehen. Dem
Fräulein von Lössin galt meine Herausforderung, die ich mit Herzklopfen auf-
recht hielt. Da sie noch nicht kam, vielleicht überhaupt nicht kommen würde,
amüsierte ich mich über die beiden Theaterkritiker der Stadt, über den Ober-
lehrer, der für die deutschnationale Zeitung arbeitete, und nicht weniger über
den Volksschullehrer, der für das sozialdemokratische Blatt die Rezensionen
schrieb. Beide kamen sie mit ihren Gemahlinnen gegangen, unter deren
Fuchtel sie standen, die sie aber im Theater in seltsamer Verblendung wie kost-
bare Beutestücke am Arm führten, beide schritten sie wie beliebte Klassiker-
büsten, die ins Wandeln geraten waren und über zu engen Schwalbenschwanz-
röcken die Gesichter in strenge Falten aus vergeistigtem Gips gelegt hatten.
Sie waren beide beachtliche Dummköpfe und pflegten den gleichen Geschmack,
verehrten auch beide über alle Maßen die Salondame, Fräulein Danata, waren
aufeinander eifersüchtig und hatten ihretwegen zu Hause die Hölle, doch da
sie meinten, nach berühmten berliner Vorbildern es sich schuldig zu sein, gegen-
einander polemisieren zu müssen, produzierten sie nach jeder Premiere die selt-
samsten Hirngespinste, denn da sie ja nicht miteinander sprachen und nicht
wissen konnten, was der andere sich diesmal ausdenken würde, führte sie ihre
Beschränkung dazu, zur eigenen, zu späten Überraschung dieselbe Meinung