MID355-M031-004

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MID355-M031
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment 6
Kopie
nein
Durchschlag
ja
Ich entsinne mich genau des Gesichts der Großmutter, wie es
über meiner Wiege erschien oder der Kiste oder dem Wäsche=
korb, in dem ich lag, ich weiss es nicht, ein bleicher Mond,
wie ich ihn gesehen hatte, nachts, wenn das Fenster offen war,
der Mond ging auf, blieb über mir, Vollmond, nicht gross, er
betrachtete mich, und ich beobachtete ihn, es war ein tief=
trauriger Augenblick, wir waren uns beide der Wehmut bewußt,
die unsere Blicke lenkte, und der bleiche kleine Großmutter=
mond hatte seine Mondlandschaft, Mondtäler des Grams, Mond=
krater um die verweinten Augen, da sie leiden wollte, hatte
sie das Leid gehalten, eingegraben in ihre Züge, eine Bestrafung,
da sie über den Zaun gesprungen war, über die Hecke der
evangelischen Zucht, über das Gitter des Herkommens, verlockt
von Unordnung, die aus der Behütung gesehen und für einen
Moment der Betörung paradiesisch geschienen hatte, gleich aber,
als der Sprung geschehen war, der Fuss aufsetzte in Freiheit,
und schon etwas gebrochen war, der Leichtsinn, der jubelnte
Entschluss. der kühne hohe Mut, die kühne Freude, erkannte sie, die
eine Bäuerin war, wenn auch von den Gütern, das brache Land,
den salzbitteren Grund, das faule Wasser, Unkraut und Kriech=
getier. Warum ist die Sumpfdotterblume nichts wert? Die Groß=
mutter hat darüber nicht nachgedacht. Ihr blieb Unkraut Unkraut.
Selbst als das Unkraut der Welt sie durchrankte und sie mit
ihm gejätet wurde. Ich fragte bald, Unkraut, was ist das? Wer
erfand den Namen, wer gab ihn wem? Wer nahm sich das Recht?
Wer Unkraut sagt, nimmt auch den Schindanger hin, auf den er
zu liegen kommt. Ich fand die Sumpfdotterblume schön vor allen
Blumen und ergötzte mich früh schon an ihrem prächtigen
lateinischen Namen: Caltha palustris.