Jugend. Eine Erinnerung8

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

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Wkoe
Absolute Datierung
31.1.1971
Zuordnung
Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)" 45 44
Kopie
nein
Durchschlag
nein
56 Wolfgang Koeppen
kurzem Stiel, die Waffe, die die Generäle überrascht hatte, mit der die Generäle
nicht fertig geworden waren, die den Krieg entschieden verloren oder ge-
wonnen hatten, sie konnten den Spaten am Koppel tragen, und sie trugen ihn
gern am Koppel, auch als sie nicht mehr dazu gezwungen waren den Spaten
am Koppel oder sonstwo zu tragen, und sie hätten gehen können wohin sie
gewollt hätten, auseinanderlaufen, von der Fahne fort die es schon lange nicht
mehr gab, aus der erzwungenen Gemeinschaft weg, vom Regiment des Todes,
aber sie wollten nicht auseinanderlaufen, nicht von der Gemeinschaft weg, vom
Tod und dem Befehl, sie fürchteten, ihre Körper könnten verlorengehen in der
Freiheit, hinweggezaubert werden, plötzlich nicht mehr da sein, sie brauchten
ein Koppel um den Leib und ein festes Schloß mit Gott für König und Vater-
land oder nur mit Gott mit uns, und einer schlug mit dem Spaten auf ihn ein,
von hinten, sie hatten ihn vorangehen lassen, sie trotteten durch den Wald, der
eine traf seinen Hinterkopf gut und von hinten dann fiel er, fiel auf den Wald-
boden, fiel in das Eichenlaub das Lindenlaub die Buchenblätter das Birkenholz,
er schmeckte noch das Moos, bitter, und vielleicht hätte er Kresse gemocht zum
Karpfen oder zum Heilbutt, wenn er Pastor geworden wäre wie er Pastor hatte
werden wollen, am Karfreitag oder am Heiligen Abend nach dem heiligen
Abendmahl nach der Predigt, und sie drehten ihn auf den Rücken und traten
ihn mit ihren genagelten Marschstiefeln die zurückmarschiert waren von Ver-
dun, Brest, Litowsk und Gallipoli, sie marschierten vorwärts mit ihren ge-
nagelten Marschstiefeln in sein Gedärme hinein, zerquetschten seine Brust,
stampften die Marschnägel der Knobelbecher auf seine Augen, bohrten die
metallbeschlagenen Stiefelspitzen in seine gespaltene Stirn, sahen schließlich
was sie sehen wollten, sein Hirn, begriffen nichts, blickten stumpf auf graue
Zellen, auf den Abfall eines Menschen, der gehabt hatte womit sie nicht ge-
segnet waren, Einmaligkeit, Verstand, ein Herz, eine Zunge zu reden, den
Glauben an die Unsterblichkeit seiner Seele, der mutig gewesen war, nicht nur
vor Verdun, nicht nur auf Befehl, den der Tod geschmerzt hatte wo er ihn
erblickte, der Verwundungen erlitten hatte, sichtbare und unsichtbare, und der
in sich gespeichert hatte die Schätze seines menschlichen Erbes, Bibliotheken
von Ephesos, von Babylon, von Alexandria, die Bergpredigt, die Freiheit eines
Christenmenschen im Pfarrhaus besprochen, die Menschenrechte aller Men-
schen, die lateinische die griechische die hebräische Sprache, Tolstoi im Winter-
sturm ein armer Bauer auf Jasnaja Poljana und der ferne Sturm der O-Mensch -
Rufe an Berliner Caféhaus-Tischen, und dann gruben sie ihn ein, wozu hatten
sie den Spaten, sie mühten sich nicht sehr, sie höhlten das Loch mit dem blut-
beschmierten Eisen, oberflächlich, sie hatten nichts zu fürchten, sie fluchten
nur über die Wurzeln der Bäume die sie hinderten, sie hackten mit dem Spaten
in die weitverzweigten Wurzeln hinein, sie gaben seinem Leichnam den letzten
Tritt in die Grube, sie scharrten ihn zu. Hier lag ein Hünengrab. Ein Fuchs fand
sein Fleisch. Oder ein Eber. Er war ihnen zu mager.
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Er lag im Wald verscharrt, bis sie ihn ausgruben und auf den Seziertisch
der Anatomie legten, auf die ekle Gummidecke, auf die naßkalte feuchtschnau-
zige Haut eines Frosches, auf das algenglatte schneckenschleimige gänsefrost-
weckende geschundene Kleid einer Schlange oder eines anderen Reptils, vor
dem ihm gegraust hatte wenn sie die Kröte oder den Salamander oder die
Blindschleiche in seine Schulmappe getan hatten, und das Gelächter dann als
er nach dem Geschichtsbuch gegriffen, die Siege, die Niederlagen, die Könige
und all die Erschlagenen, der Institutsdiener konnte das Tuch mit einem Strahl
aus dem Wasserleitungsschlauch abspülen wie er die Hinrichtungsstätte in
einem Zuchthaus abspritzte, seine Nebenbeschäftigung, nach dem Urteil, nach
dem Gebet, nach der Exekution, die nach den wohl ausgedachten Regeln der
kaiserlich-republikanischen Hinrichtungsordnung geschah, feierlich und unsag-
bar schäbig, nach einem Protokoll wie beim Besuch von Majestäten, nicht von
Präsidenten, blank gebürstete Zylinderhüte waren der Gattinnen Stolz, beleb-
ten Erinnerungen an den Traualtar und das legitime Bett und die Hoffnung
auf ein honoriges Begräbnis, Orden zeigten, daß man wer war und daß man
nichts war, nur daß man oben saß und mächtig blieb und allen Feinden trotzte,
den Vorgesetzten ein Diener, oder doch teilhatte an der Macht, zumindest, sie
trugen urgemeine erzverschlagene gründlich habgierige verlogene Gesichter,
spritzt ab das Blut, spült fort die Leibesnot, hinweg mit dem schüchtern im
Hals würgenden Mitleid und ins stinkende chlorende Abflußrohr das Gebot,
du sollst nicht töten, auf das sie sich beriefen wenn sie das Beil fallen ließen,
und sie öffneten diesen Leib, soweit er noch nicht geöffnet war, ihre Gummi-
hände und ihre Skalpelle bastelten bohrten sich den Weg, sie wollten lernen,
sie lernten zu, ihr Herz schlug, ich hoffe es, unter der Gummischürze, schlug es
wirklich, es schlug versteckt, sie hörten es selber nicht, es war fest eingewickelt
von erhebenden Gefühlen, es war gepanzert mit falscher Geschichte, es war,
sie lobten es selbst, ein Herz aus Kanonen- und Granatenstahl und, wie sie
und ihre Väter dachten, bewahrt vor Versuchungen, die vielleicht doch kommen
mochten, eines Tages, zu unvorhergesehener Stunde, in der Nacht, nach dem
ersten Schlaf, oder auch am Mittag, wenn man müde war vom Essen und vom
Bier, dies Herz war isoliert vom immerhin kommunizierenden Strom der Welt,
entzogen einer Brüderlichkeit die sein sollte, sie lernten von ihm der nun kälter
war als die froschige Unterlage als die wärmelose Gummihaut über ihren Hän-
den als der feste Gummipanzer ihrer Schürzen, fühlloser nun war unter ihrem
Messer als die kühlen Klingen, sie lernten schnell, daß man sich so nicht ver-
halten durfte wenn man vorankommen wollte im Leben, und sie wollten voran-
kommen, nicht so wie er, und sie billigten es, daß man es so wie er nicht durfte,
sie waren sehr zufrieden, daß es so übel ausgegangen war, denn sie sympathi-
sierten offen mit seinen Mördern, Beflissene der Medizin, Kandidaten der
gerichtsmedizinischen der vereidigt sachverständigen Karriere, Nachwuchs,
Schondavongekommene, die nicht wußten wie und sich benachteiligt fühlten