Von Anbeginn verurteilt4

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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Wkoe
Absolute Datierung
1.9.1969
Zuordnung
36 Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)"
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Durchschlag
nein
840 Wolfgang Koeppen
Was beglückt ihn so, womit erbaut er? Im Anfang war Wüste und Finsternis,
und es wurde Licht, und Adam begegnete Eva, Kain beneidete Abel. Tausend
Jahre, Millionen Jahre. Lauter herrliche Siege, die Erde war ein flacher über-
schaubarer Teller, kreisend im Fruchtwasser der Herrlichkeit, nun eine Kugel,
Stern unter Myriaden Sternen entthront aus der Mitte der Schöpfung; dies bis
auf weiteres. Er aber steht fest, hier und jetzt, und fest steht auch, dort und
jetzt, schwer zu glauben, der Antipode. Zwei Philosophen in Pantoffeln oder
in Schaftstiefeln, auch in Lackschuhen, Sohle gegen Sohle und zwischen ihnen
der fliegende Erdball. Erstaunliche Äquilibristen! Moses gab es und den
großen Aristoteles, den noch größeren Alexander und Nero und Vergil und
Charlemagne, Petrus und die Stellvertreter und vielleicht noch Mohammed
vom heiligen Grab bis Wien, von Buddha kam märchenhafte Kunde, Jesuiten-
klatsch, und irgendein Hutzliputzli reiste auf einem Schiff unter Wahnsinnigen
und Gold. Bleibt der emsige Erforscher der Historie unserer lieben Heimat.
Der bedeutende Mann wirft sich in den Staub, scharrt und kräht wie ein Hahn
auf dem Mist und findet seinen Atlas pommerscher Vorgeschichte. Ein in jeder
Hinsicht ordentlicher Professor. Wirklicher Geheimer Rat. Wer war töricht
genug, ihn um Rat zu fragen, wirklich und geheim? Inhaber des Lehrstuhls.
Hier steht er, klammert sich fest und kann auch anders. Stimmberechtigt in der
Königlichen gelehrten Gesellschaft zu Kopenhagen oder Uppsala. Willkommene
Aureole des Magiers aus dem Norden, polarlichtgeblendet, er schloß die Augen,
stimmte nicht mit, doch ein, hatte kein Geld zu reisen. Korrespondierendes Mit-
glied, das die Briefe schuldig blieb oder nie Antwort bekam, der Royal Academy,
London, des Institut de France, Paris. London, nie erfahren, nie gesehen, viel-
leicht Kant über London gehört. Kollege war auch nie da gewesen. Paris, Stadt
der heiligen Könige, Thron der großen Könige, der Bartholomäus- und anderer
Nächte, Residenz der Sonne, Quartier der Hohen Schulen, Feuer des Aufstan-
des, Klause auch Pascals, aus der Traum. Dekan der Fakultät. Frucht der Jahre.
Einmal selbst Magnifizenz. Es war Zeit. Sein Stehpult ist ihm nun zu hoch
gerichtet. Über die Schulter blickt der Tod. Das lastet im Nacken, krümmt den
Rücken. Oder war es das Leben, die stolze Laufbahn, erbärmliche Stipendien,
winterkalte Stifte, das schwere Latein, der hungernde Studiosus, der kriechende
Magister, die ersehnte Berufung, die kleine Anstellung? Auf wackligen Bei-
nen halten sich Pult und Herr, der Autor und sein Knecht. Über ihnen wie
berstende Regenwolken die vollgestopften Regale, Papier, Papier, die eigenen
Schriften, die benutzten Bücher, die alten, die wiederholten Vorlesungen, die
neu belebten, die aufgefrischten, schön gekämmten, glatt gebügelten Gedanken,
Exzerpte auch, Zettelkästen, das beschlossene, erträumte, gemiedene, nie ge-
wagte Werk, das große Fragen, die Entschleierung, die Zerstörung der Hoff-
nung, kein mildes Alter und Staub, Staub und Staub. Er hat keinen sauberen
Schlafrock an, lebt ja mißachtet im Haus, sein Ruhm blüht in den Annalen,
vom Neid der Fachgenossen gepflegt, vom Spott der Schüler benagt, wie kleine
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scharfe Mäusezähne den Rand der Folianten zerfetzen, Mäusedreck hinter-
lassen, das Schlafgewand, das Arbeitskleid, heruntergekommene Kutte des Hei-
ligen Benediktus ist speisenfleckig, notdurftverschmiert, schnupftabakgebräunt,
pfeifenglutgesengt, eine Kappe deckt das ehrfurchtgebietende schüttere Haar,
alter Duttel, sagen sie, und überall lugen die Geier, wetzen die Schnäbel, signa-
lisieren den Würmern, die Seide der Kappe mit Blümchen bestickt zu Weih-
nachten oder zum Jubelfest von der Gattin, der dreißig Jahre lang bitter treuen,
enttäuscht, ach, wovon, unverstehend, wie könnt es anders sein, oder von der
Tochter, der zu ihm aufblickenden, die es graut, wenn sie sieht, in seinem
Gesicht sieht, was sie wird, wie sie wie er wird, und der Vater bedeckt die
Augen, denkt, sie wächst heran, das Kind, zwanzig Jahre, dreißig Jahre und
der Dämmerung zu, dem Stift für die mittellosen Töchter gebildeter Stände,
oder sie wird dem letzten Famulus endlich angetraut zu später Fortpflanzung,
ein blasser ehrgeiziger Judas, dem auf die Leiter geholfen wird, mit Bücklingen
und Winkelzügen und Selbstverleugnung in die Fakultät gebracht, der präsum-
tive Fälscher und Vernichter der literarischen Hinterlassenschaft, der natürliche
Verräter der alten Koryphäe, doch vielleicht trägt der Meister noch die Perücke,
den Zopf fritzisch gebunden, ferkelschwänzig, mehlpuderbestäubt, oder er ist
schon mit dem Schlapphut, das Silberhaar schon gepflegt, glänzend in langen
Locken, auf dem Weg zur Paulskirche, seiner Vollendung nahe, bald eine Spott-
figur der Fliegenden Blätter, Herr oder nicht einmal mehr Herr eines verges-
senen Regenschirms, Mut, Geduld, im Schrank warten schon der Sedanfrack,
die Reserveleutnantsuniform und all die Lakaienröcke seines erbärmlichen
ordengeschmückten Niederganges. Die Decke des Zimmers drückt, wie eine
schwere Hand, das Fenster ist klein, als koste das Licht Geld, vor den unter-
teilten Scherben jedoch das Idyll der Laube, Jasmin und wilder Wein, so siehts
das Gemüt, er hat keins, er haßt es, jede Stunde bleibt dunkel, bei Sonne im
Schatten des Turms von Sankt Nikolai, bei Nebel im Schleier der See, in der
Waschküche der Welt, im Steckkissen der Schöpfung. Homer schaut dem Pro-
fessor zu, sein blindes Haupt auf die Estrade gesetzt, oder ist es Perikles, der
gepriesene Staatsmann mit dem Helm? Unsere schwache alte Hand klammert
sich doch energisch an das rettende Pult, während die andere zitternd begeistert
die Säule zeichnet, wir messen auch mit dem Zirkel, rechnen mit dem Winkel-
maß, nach einer klassischen Vorlage, dem zerstörten Tempel von Athen oder
einem geborstenen Bogen vom Forum, lateinische oder griechische Schrift.
Schimmel frißt sie. Auf der Wiese hinter der Laube hängen sie die Wäsche auf,
Gattin, Tochter, Magd, vielleicht eine und dieselbe Person, vom Pflaumenbaum
zum Apfelbaum, seine Hemden, Galeerenlumpen, Mönchsbinden, Kragen von
spanisch-katholischer Weltfrömmigkeit, humanistischer Frivolität, lutherischer
Reform, calvinischer Strenge ignazistischer Schläue, dann Jakobinerjabots,
Fichtemoden, Hegelschleifen, Turnwarttrikots, Metternichpolster, Vatermörder,
küraßsteife Regierungsbrüste, angstschweißaufsaugende Jägerhemden, dazu den
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