Erstausgabe (1976) Sequenz 50

Archivmappe
Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
50
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Der Gang war rötlich linoleumbedeckt feucht vom Aufwischen mit feuchten Tüchern roch nach Petroleum und Karbol entflammbare Luft durch die er lief in grüngelb blauroter Iris blühendes Gezücht es kribbelte die Beine hoch die Feuertür war nicht gesperrt führte in den Dachstuhl der Stadthalle Tanzabend Ballettabend Schlagernacht die Sterne von Film und Funk verehrliche Gastspieldirektion der berliner Hillermillerzillerrevue tausend süße Beinchenweibchen im großen Stadtsaal auf der Wahlrednerbühne der vaterländischen Gesänge im Giebel die Garderoben er beugte sich hinunter erniedrigte sich wie er wußte gab sich nach ergab sich Gottes Willen verstohlen schaute sich um guckte durchs Schlüsselloch der verschlossenen Tür sah die Reihe der Schminktische die Spiegel die Glühbirnen eingefangen hatten die Spiegel kleine Monde Leibteile Rißgesichter er roch die fallengelassenen Schlüpfer die über den Kopf gezogenen Spitzenhemden die Leibchen die Halter für Brust und Strumpf über die Lehnen der Brauereistühle gelegt auf den Boden geworfen saßen sie <118>reckten sich strampelten verfingen sich mit bloßen Füßen in abgetanen Gewändern den anzuziehenden Tütüs und Flittern die berliner Mädchen nackt bis zu den Binden das Geschlecht hervorhebend in der Verpackung ihre Binden schnitten ihm in den Schritt er malte die unter Mull und Gaze gepreßten Haare er hatte sie noch nie in Natur gesehen befeuchtet von ihrem Blut und Saft und Lack auf der nassen Scheide in Döderleins Atlas der Gynäkologie in der Universitätsbibliothek aufgeschlagen im Lesesaal der Handbücherei entnommen dem Regal Medizin auf der grauen Eisengalerie gelochte Stufen schalltragende Platten über die er ging wie im Maschinenraum eines Dampfers und hielt den Döderlein in Händen die ein wenig zitterten errötete Döderlein wußte Bescheid kannte sich aus sah das weibliche Menschentier gesund und meist krank klammerte die Schamlippen auf ließ nichts verhüllt öffnete den strotzenden Bauch zeigte das Kind in der Höhle gekrümmten Homunkulus oder wie der Mensch schon in die Welt fiel den Kopf das kahle Greisenhaupt voraus greinend wohl oder mit dem entsetzten ersten Schrei oder gar in die Zange die der Arzt spreizte um den Schädel hakte zupackte und ein Bürger mehr kein Kretin kein Genie vielleichtein Ärgernis ein Stotterer prenatal traumatisiert und vor dem Schlüsselloch in der Tür sein Auge und hinter der Tür und durch das Loch gesehen die berliner Girls ihre dicken kurzen Schenkel ihre dünnen mageren Hinterhausbeine rachitische Knollen <119>an den Gelenken die englische Krankheit Krieg Hunger und Kellerjahre aber die Haut weiß von durchschnittlich zwanzig sie puderten ihr Fleisch die Quaste wischte über den vorgewölbten Leib ein Tupfer Rouge auf die Brustspitze oder sie rieben sie kreischten kicherten berührten sich sangen komm mein Lieschen Lieschen Lieschen Pagenköpfe Kätekrusepuppen dauergewellt schon brüchig das gebleichte Haar blieb im Kamm wurde ausgezuzzelt deckte den Boden haftete an den nackten Sohlen Wasser rauschte Spülung der Toilette näßte bohrte den Nacken auf das Rückgrat hinab Härte löste sich Schmerz ging wie ein scharfes Messer hinter die Stirn das Auge müd es schrillte die Glocke im Hennenhof Auftritt der tausend Beinchen Parademarsch die berliner Luft Luft Luft er lief über den Flur zurück durch die Feuertür den Notausgang erreichte den Stadttheatertrakt kam in die Garderobe der Anfänger der Kleindarsteller Spiegel Schweiß und Leichners Fettschminke Göbel stand da in langen Unterhosen er verachtete Göbel langer Fuß lange Zehen phallisch erregt du mußt dich jeden Tag waschen Tag für Tag und sei es in einem Blechkübel den ganzen Körper es ist das mindeste das ein Mädchen verlangen kann Göbel sah es hygienisch sein schwarzer Scheitel glänzte werbend ein hübsches trübes Lächeln er hatte Erfolg bei den Damen er schlief sich durch es war ihm egal ob sie sprechen konnten jung schön waren oder nicht