Erstausgabe (1976) Sequenz 05

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
5
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Feetenbrinks Konzerthaus war ein Palast in der Hunnenstraße, einstöckig wie die anderen Gebäude, aber eine lange Front, die abends erleuchtet wurde wie gewöhnliche Häuser nur zu Kaisers Geburtstag mit Siegerkranz und Wonneganz und Kerzen in den Fenstern. Das Konzerthaus war der Stolz und die Schande der Hunnenstraße, es gab ihr Glanz und Dunkelheit. Alle <27>beobachteten, wer zu Feetenbrink ging. Nicht nur alte Weiber hockten hinter den Fensterspiegeln, diesen wie Periskope oder Polypenaugen auf die Straße hinausgestreckten Spionen und registrierten, was anfiel, speicherten die Daten, jederzeit bereit, sie wieder auszuspucken, bleich entrüstet, neidgrün verfärbt, frühe Elektronengehirne.
Die Gutsbesitzerwagen fahren vor, ich bewundere sie, ich streiche drumherum, offenen Mundes, Lack funkelt, Leder spiegelt, Schmiere salbt brunnenschwarz die Naben der Räder, es näßt es dampft es glänzt der Pferde Fell, der Hausknecht präsentiert eine unsichtbare Standarte, alter Königinkürassier, wenn er den Namen Pasewalk nennt oder hört, die Stadt, in der er diente, in der man ihn kleinkriegte, in der er stramme weiße Hosen trug, sieht er wie der Trompeter von Thionville aus, wie die Attacke von Mars-la-Tour, und ich denke an Pasewalker Spritzkuchen, süß leicht und fettig wie eine schwere gezuckerte Luft, meine Mutter schwärmt von ihnen, aus Pasewalk kommt nichts Böses, der Hausknecht nimmt die Zügel, die ihm gnädig zugeworfen werden, er weiß, was erfreut, Herr Rittmeister Herr Hauptmann Herr Oberst Baron von und zu und auf Klüttegrütt, der Gast, der Gast geehrt, ein breiter Rücken, ächzt die drei Steinstufen hoch, füllt die Tür, rollt ins Haus, im Winter zottelt ein Pelz, schneenaß, wälderkalt, im Sommer spannt sich leichtes Tuch über Schultern und Gesäß, Nanking, klemmt im <28>Schritt, fällt durchschwitzt und plump über die vollen Ackergängerschenkel, Zigarrenrauch bleibt zurück, Wolke eines Kanonenschusses, der Knecht schirrt die Pferde aus, reibt und deckt sie mit wollenem Tuch, faßt sie am Halfter, führt die Geduldigen in den Stall, ich bin ihnen gefolgt, ich buhle um die Freundschaft der Pferde und ihres Knechtes, die Pferde sind freundlich, sie haben sanfte dunkle Augen, der Knecht treibt mich mit Flüchen aus dem Stall, im Konzerthaus beginnen sie Klavier zu spielen, Gelächter gluckst, Worte stürzen zerbrochen über die Straße.
Die Gardine wird zur Seite geschoben, ich stehe vor dem Haus, ich beobachte alles genau, eine Frau zeigt sich am Fenster, klopft gegen die Scheibe, es gilt mir, ich erwartete es, Geheimnis durchrieselt mich, ich denke, sie schlägt mit einem goldenen Ring, pocht mit einem grünen Edelstein, sie hält etwas in der Hand, sie lockt mich, ich kann nicht erkennen, was sie mir zeigt, aber es ist unendlich begehrenswert, die Hand winkt, ich fürchte mich, ich blicke mich um, nach Beistand, der mit mir geht, nach Feinden, die mich hindern könnten, ich fühle mich versucht, ich kann nicht widerstehen, ich klettere die drei Steinstufen hoch, tapse durch die offene Tür, bin der dicke Gutsbesitzer im Pelz oder in Nanking, atme Bier und Rauch, höre nun lauter das Klavier, heller das Lachen, schärfer die Rede, die Treppe führt steil empor, ein roter Läufer bedeckt sie, der rote Läufer weist den Weg, ich strenge mich an, ich <29>krieche höher, der Läufer ist rauh, der Läufer schrammt die Hände und die Knie, im ersten Stock hängt die Kokosnuß, eine Alabasterleuchte von Palmenblättern umrankt, der Gang ist schummerig, er dunstet, er brodelt, er wärmt wie der Stall, aber das Tier, das hier wohnt, ist kein Pferd, das kitzelt die Nase wie in Dehmels Barbiersalon, scharf nach Seife, nach Blumen, die getrocknet im Familienalbum liegen unter Verwandten unter Toten unter Leuten, die irgendwer kannte und deren photographisches Abbild man entgegennahm und aufbewahrte und die man sich nicht mehr vorstellen kann, auch nach Blumen, die zu lange in der Vase im Wasser gestanden haben, ekel nach gestocktem Blut, eine Tür wird spaltbreit geöffnet, Licht sticht, Stoff fällt zurück, ein Arm blüht weiß, die Frau zieht mich herein, sie hat an das Fenster gepocht, sie hat mich gelockt, sie trägt ein Gewand, wie ich es noch nie gesehen habe, das Kleid einer Königin oder eine Fee, es scheint aus lauter Spitzen und Federn zu sein, ein bunter Vogel stelzt vor mir, flattert, schlägt die Schwingen, sprengt die Kammer, das Haar der Frau leuchtet wie eine blonde Sonne, Rapunzel aber mit einem Harlekinsgesicht, rotweißverschmiert, die Augen teerpfützenblau, die Brauen steinkohleschwarz, ihre Brust ist wie ein Bett, zwei hochgeschüttete Pfühle, ein Schutz in kalten Nächten, die Stimme jubiliert, eine Sängerin, eine Nachtigall, sie schenkt mir, was sie mir am Fenster zeigte, einen Reiter auf einem Pferd, Reiter und Pferd <30>sind aus Holz, das Pferd ist weiß und schwarz, der Reiter ist weiß und rot, ich liebe den Reiter und sein Pferd, ich werde sie nie wieder hergeben, ich drücke sie gegen die Brust und fange zu weinen an, ich habe meine Mutter betrübt.