MID355-M023-046

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Prosa“, Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart 14.11.1969.

Archivmappe
MID355-M023
Absolute Datierung
-
Zuordnung
4 Publikation: "Jugend" (SDR 1969)
Kopie
ja
Durchschlag
nein
- 8 -
Wie arme kahle Kinderschädel ragen die Hunenstraßensteine
eng aneinander gestampft aus der Erde, naß oder trocken,
warm oder kalt, ich spüre die Steine rund und hart unter
den durchlaufenen Sohlen der Schuhe, durch die wider-
wärtigen kratzenden Wollstrümpfe, durch die zerrissenen
Sommersocken, barfuß glatt und kühl, es ist eine rumpelige
Straße, meiner Haut preßt sie sich ein, ich bin noch nicht
abgehärtet, alles liegt vor mir.
Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte es geht
in die Welt, fort von der Hunnenstraße, geradenwegs zu den
Chinesen, die sind gelb und tragen lange schwarze Zöpfe,
mein Kaiser straft sie, meinem Kaiser gehören die Schiffe
im Hafen, der Sommerdampfer nach Wiek, der Sonntagsdampfer
nach Rügen, die schweren Kähne mit den Kohlen den Zucker-
rüben den Kartoffeln dem Korn, die Herings- und die Flunder
boote mit ihren rostbraunen Segeln, der schnelle Aviso der ein
Panther gegen die Heiden, die meergrauen nebelgraue feind-
graue sieggraue Torpedobootpatrouille, Regen kommt oft,
Wasser stürzt aus den Traufen, Strömen rinnen zur See,
Unrat schifft stolz hinab.
Die Wagenräder sind eisenbeschlagen, sie poltern wie die
Lafetten der Kanonen, die 2 wie 1 Kugeln der alten Schweden
die in die Stadtmauer drangen, rollen und grollen wie
Donner, die Häuser der Hunnenstraße erbeben, machen sich
klein, sind es gewohnt, kalkweißer Anstrich nun schmutz-
grauer Fassaden, schmalbrüstige Fronten, steile Giebel,
rotgepfannte Dächer, verrußte Schornsteine, beißender
Torfrauch.