MID355-M023-012

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Prosa“, Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart 14.11.1969.

Archivmappe
MID355-M023
Absolute Datierung
-
Zuordnung
4 Publikation: "Jugend" (SDR 1969)
Kopie
nein
Durchschlag
ja
- 10 -
(Sprecher:) Unter der Stube des Herrn Bürgerschullehrers geisterts
verdächtig, und verbissener klammert er sich an seine
Vorstellung vom ernsten Leben, und auszurotten ist das
sündige Kindsein mit Rohrstock mit Stumpf und mit Stiel.
Frau Kapitän verwitwet in dicken Federbetten wie unter
hohen Wogen begraben. Wo mag der Kapitän geblieben sein?
Ach, im Silberrahmen auf der Kommode gegen ein Schnörkel-
säulchen gestützt, die Hand die das Ruder führte auf ein
Häkeldeckchen gelegt, chinesische Taifune, gelbe feuer-
speiende Drachen sind freundlich hinzuzudenken. Auch
der Küster von Sankt Nikolai ist ein sehr ernster Mann,
schwarzer Gehrock, schwarze Krawatte, schwarzer Seelen-
hirtenhut. Ist noch sein Taschentuch schwarz, winkt er
schwarz gegen den Himmel? Antwortet dem schwarzen Mann
sein schwarzer Himmel? Der Küster blickt zum hohen Turm
hinauf. Von der See kommt das Wetter. Der Blitz des Herr-
gotts trifft jeden der vermessen sein Haupt hebt.
Sankt Nikolai wirft seinen schweren lutherischen Schatten
in die Hunnenstraße. Die Betrunkenen kommen erst später.
Die Hunnenstraße heißt nicht nach den Hunnen, die Hunnen
überfallen die Straße, nur nicht zu Pferd, sie ziehen
triumphierend durch, sie sind die Sieger auch zu Fuß,
so sind sie die Helden, es sind fröhliche Leute, sie
lachen, sie singen, sie treten das grobe Pflaster, an be-
sonderen Tagen mit Stulpenstiefeln und Sporen, sie blik-
ken ernst und fürchterlich mit aufgezwirbelten Schnurr-
bärten, sie schlagen, streichen, wippen mit federnden
Stöcken gegen die zerschundenen Gesimse,