MID355-M020-093

Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.

Archivmappe
MID355-M020
Absolute Datierung
21.6.1976
Zuordnung
37 Publikation: "Eine Jugend II" (BR 1976)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
jh - 6 -
die Rehe schnupperten, prusteten mit feuchten Lippen über die
hingehaltene selbstzufriedene Hand, doch man sieht keine Rehe
mehr, die Rehe sind verschwunden, geraubt, geplündert, mit dem
Armeegewehr erschossen, von Handgranaten erledigt, bei Nacht
geschlachtet, vielleicht hat der Fürst sie gefressen, während die
Standarte seiner Hoheit und seiner Anwesenheit auf dem Dach seines
Schlosses wehte, vielleicht aßen auch andere die Rehe, taten sich
am Rehfleisch gütlich, während der Fürst vor gedeckter Tafel, vor
leeren goldenen Tellern im Prunksaal ohne Feuer und ohne Licht saß
und auf die Schüsse lauschte, auf die Explosionen der Handgranaten
vor seinem Haus, in seinem Park, bei seinen Rehen, die er liebte
und nicht schlachten wollte, und vielleicht geschah dies alles
während der Fürst starb. Die Wege des Parkes sind sorgsam mit
Sand bestreut, der von der Ostsee angespült, von Tagelöhnern
hergekarrt wurde und hier sehr ordentlich aussieht. Der Sand ist
weiß, feinkörnig, meergewaschen, manchmal knirscht eine zertretene
Muschel, und immer ist ein alter Mann beschäftigt, der dem Fürsten
ähnlich sieht und vielleicht sein Bruder ist, die Pfade zu harken.
Wenigstens in der Saison. Meine Mutter sitzt im Park auf einer
Bank, die der Schloßverwaltung oder dem Kurverein gehört. Meine
Mutter schreibt. Sie schreibt keine Ansichtspostkarte, sie
transportiert nicht das Schloß des Fürsten von Putbus nach Hause
oder in die weite Welt. Keine Grüße aus der Sommerfrische. Auf
ihren Knien ruht ein abgegriffener Band, eine Sammlung von
Fingerabdrücken, von Erinnerungen an fremde, unachtsam
verschlungene Mahlzeiten, Brandflecken mißmutig verpaffter
Zigaretten, der Klavierauszug einer lustigen Operette, und auf dem
schäbigen alten Klavierauszug liegt ein Bogen gelblichen
Kanzleipapiers, den meine Mutter irgendwo gefunden oder mitgenommen
hat und sie schreibt mir: - - -