MID355-M020-006

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Prosa“, Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart 14.11.1969.

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MID355-M020
Absolute Datierung
-
Zuordnung
2 Publikation: "Jugend" (SDR 1969)
Kopie
ja
Durchschlag
nein
- 4 -
(Sprecher:) Ihn grüßt selbst der der Corpsstudent. Borusse mit dem weissen Stürmer zu-
erst. Maria ist gutmütig. Sie hätte den Schuster als
Bettler bemitleidet; wäre er wegen Mietschulden aus seiner
Werkstatt oder seiner Wohnung geworfen worden, hätte sie
sein Unglück gerührt, wie ihr eigenes, ihrer Mutter
trauriges Los sie immer wieder zu Tränen rührte. brachte Maria ist
gutmütig, hat ein Herz aber der Schuhmacher als keinen hat Stand, als ein Handwerker
ist ein unmöglicher Mensch. Da Maria arm ist, verehrt sie
den Besitz. Da sie sich deklassiert fühlt, bewundert sie
um so mehr die herrschende Klasse. Sie zweifelt nicht, dass gnädige Frauen gnädig und gut und ein Vorbild sind. Der Arme hat an Brot zu
denken. Der Reiche beschäftigt sich mit Blumen. und Stickereien und der schönen Kunst Maria hat
keine Ahnung, wie Besitz erworben wird. Sie versucht sich
mit verbundenen Augen ( die Binde der Torheit liegt über
ihnen ) in den Balanceakt, ohne Geld und ohne soziale SDel-
lung eine junge Dame zu sein. Wer arbeitet, Dienste leistet,
einem Erwerb nachgeht, ist aus der Damenwelt ausgestoßen,
und so leben Maria und ihre Mutter vom Zimmervermieten an
Studenten und manchmal auch an einem Dozenten. So ist sie zu
Bismarck gekommen, der einem Herrn gehört, der die venia
legendi der Augenheilkunde besitzt und wenn das Wetter
schön herrlich ist, die Sonne strahlt, in einen Freiballon steigt, um über der Stadt
zu schweben. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages
auf der Langen Straße, im von der Seeluft verklärten Licht
des Sommers oder dem weihnachtlichen Gasglühlichtschein
der Schaufenster und Laternen.
(Akzent)