MID355-M005-005

Archivmappe
MID355-M005
Absolute Datierung
18.3.1963
Zuordnung
37
Kopie
nein
Durchschlag
nein
18.3.1963
den Käfig, in dem meine Mutter sich nicht rühren kann.
Eine Glühlampe glüht grell vor über ihrer Stirn. Meine Mut-
ter beugt sich aus dem Käfig vor und flüstert; aber
mit einem Flüstern, das ein flüsterndes angestrengtes
Schreien ist. Meine Mutter sitzt im Soufflierkasten
des Fürstlichen Putbusser Sommertheaters und liest
laut den Klavierauszug und spricht scharf flüsternd
den Text der lustigen Operette. Die Sänger ahben ihre
Rollen nicht gelernt. Sie schwimmen, wie sie es nennen.
Stumme Fische, Stummes, staubfädriges, leimklebriges
Aquarium. Aus der Schau meiner Mutter gesehen, wenn
sie den Blick über den Klavierauszug blickt, nur Füsse.
Auch diese staubbedeckt verstaubt und irgendwie feucht.
Erst wenn meine Mutter zu den Sängern aufsieht, be-
schwörend das Wort ruft, das lustige, diesmal voran-
bringende, erkennt sie die Gesichter der Akteure. Es
sind wütende Gesichter; sie fordern von meiner Mutter
das Leben. Sie sind aus Lehm gefügt und verlangen,
durch einem Atem meiner Mutter belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist
herrisch, eingebildet, mitleidlos, vorwurfsvoll, die
Gesichter der Sänger klagen an, weil ihre Ohren die
Sätze, die meine Mutter flüstert oder schreit, nicht
empfangen. Die Sänger öffnen den Mund, aber sie sin-
gen nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt,
wieder zu schliessen, ein schwarzes kleines Loch
unsäglicher Torheit; und ihre Augen wandern oder stechen
sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht sich ermü-
dend hin. Am Himmel, der so fern ist, versammeln sich
Hungerge=sichter