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Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.

Archivmappe
Original-Manuskript von "Eine Jugend" aus dem BR-Archiv
Absolute Datierung
21.6.1976
Zuordnung
37 Publikation: "Eine Jugend II" (BR 1976)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
jh - 7 -
Verhungere, wenn du verhungern willst, wenn es deine Bosheit ist,
mir dies anzutun, ich kann dir nicht helfen, wenn du dir nicht
hilfst, und sie entschließt sich zu schreiben, hilf dir selbst,
dann hilft dir Gott, und es ist der Gott Luthers und des kleinen
Katechismus und seiner ehebett-treuen sich vermehrenden Prediger
und untertan der Obrigkeit, und sie blickt zum Himmel hoch und
weiß, daß dies ein Gestöhn der Hilflosigkeit ist oder, von anderer
Hand gesetzt, aus anderem Mund gesprochen, der Hauch der Kälte.
Auf den Parkwegen promenieren die Kurgäste, weil sie dazu
hergekommen sind. Die Röcke der Frauen sind nach dem Morden kurz,
sie enden gleich unter dem Knie, das ist neu, man findet es
unerhört, eine Errungenschaft des Verfalls, ein Zeichen für das
Weltende, und die alte Fürstin von Putbus macht die Mode nicht mit,
ihre Röcke, Unterrock und Oberrock, fegen noch immer den Sand,
hinterlassen eine deutliche Spur ihres Vorüberschreitens wie einst
in Potsdam im Ehrendienst der Kaiserin oder am Hof der Zarin,
sie ist tot, von einem Strudel verschlungen, einem Ungeheuer
verspeist, und die Männer zeigten noch Würde, trugen sie erhobenen
Hauptes, hoch behütet, kragensteif, über dem Bauch goldgekettet
und alles Unaussprechliche unter Schwalbenschwänzen und anderen
Schößen wie in einen Sack gesteckt, so schritten sie aufrecht auf
ihre Zukunft zu, die unglaublich fern und unsagbar dreckig, nur
Kassandra erkennbar, in einem stolzen blendenden Licht das Grab
verbarg, die großen neuen Leichenfelder. Meine Mutter ist noch
jung. Auch ihr Rock ist gekürzt. Meine Großmutter hätte den Rock
nicht gebilligt. Der Rock ist zerdrückt und fadenscheinig, er ist
aus einem schäbigen billigen Stoff, einem Stoffersatz geschneidert, aus
Brennesseln vielleicht, eine Erfindung der großen Zeit und von ihr
übrig geblieben. Die grauen Zwirnstrümpfe meiner Mutter zeigen
Löcher; einige sind gestopft, zum Stopfen der anderen reichte der
Faden oder die Stunde nicht. - - -