Satzvorlage Seite 098

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
98
In meiner Stadt war ich allein
In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich
war mir meiner Jugend nicht bewußt. Ich spielte sie nicht
aus. Sie hatte keinen Wert. Es fragte auch niemand danach.
Die Zeit stand still. Es war eher ein Leiden. Doch gab
es in der Stadt keinen, der mir glich.
Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs. Ich war auf
den Straßen und Plätzen. Ich fiel überall auf. Ich hatte
kein Ziel. Ich stellte mich mitten auf den Markt. Ich war
unnütz; das gefiel mir. Ich genoß es, auf dem Markt zu
stehen. Einfach nur so. Ich hatte nichts anzubieten. Nicht
einmal mich selbst. Ich kaufte nichts. Ich wollte nicht teil-
haben. Ich verachtete sie. Ich kannte die Kurse nicht. Ich
fragte nicht nach dem Preis.
Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte mir einen Buckel.
Ich wollte ausgestoßen sein. Sie sollten es sehen. Sie sahen
es. Ich hörte sie und hörte sie nicht. Sie riefen hinter mir
her. Sie höhnten, geh, hol dir den Krankenschein zum Haare-
schneiden. Ich war in keiner Krankenkasse; ich war stolz in
keiner Kasse zu sein. Es berührte mich nicht. Sie schrien
Bubikopf, Bubikopf. Das schulterlange Haar stand mir für
eine bessere Welt. Ich zog meine Schuhe aus, knüpfte sie zu-
sammen, hängte sie über die Schulter, ging barfuß weiter.
So fühlte ich die Stadt. Sie war unter meinem Fuß. Sie
war hart und kalt. Die anderen merkten es nicht. Viele
liebten Stiefel. Sie marschierten gern. Sie hatten den Krieg
verloren. Sie würgten an der Niederlage und haßten die
Republik. Sie sagten, wenn wir die Wehrpflicht hätten. Sie
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