Satzvorlage Seite 072

Satzvorlage für "Jugend" aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
39
Kopie
nein
Durchschlag
nein
72
Tante Martha war eine stadtbekannte Persönlichkeit und gehörte
schon längst zu den Menschen, die mich beschäftigten, denen
ich heimlich folgte, in die ich mich verwandelte‚ um sie zu
erkennen und wie sie zu träumen. Tante Martha war Amtsgerichts-
rat. Die Stadt hatte sich schwer, sehr allmählich und peinlich
lächelnd an ihn gewöhnt. Als Alter und hoher Beamter wurde er
geduldet‚ was energische Charaktere skandalös fanden. Die
Studenten in ihrem gemeinen Sinn hatten den Richter schon
früh Tante Martha gerufen, und die Bürger hatten den Namen
mit ihrem nimmersatten Appetit auf Anrüchiges gierig übernommen.
Tante Martha war lang und hager, hatte eine grosse Kaspernase
und tiefliegende traurige Augen hinter dichten Falten. Hob er
die Lider, blickten die Augen wie aus dem Panzer einer Schild-
kröte. Ich sah ihn, wie er sich auf der Strasse klein machte,
gebückt ging‚ Akten unter dem Arm, wie um sich tief zu vernei—
gen, zu entschuldigen, zu demütigen. Ein Lächeln aus angeborener
Liebenswurdigkeit und entsetzlicher Verlegenheit verzerrte
seine Züge. Ich empfand die unvernarbten Wunden in seinem
Gesicht. Er trippelte mit kleinen Damenschritten durch die
wehe Luft in den Gängen des Gerichts. Seine rechte Hand war
iehalten, als hebe sie einen langen schleppenden Frauenrock