Satzvorlage Seite 066

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
37 Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
66
Anamnese 257
gäste ist nicht zu sehen. Die schöne Ostsee ist auch nicht zu sehen. Vom Som-
mer ist hier nur die Hitze zu spüren und fällt schwer in den Keller, den Käfig,
in dem meine Mutter sich nicht rühren kann. Eine Glühlampe glüht grell und
heiß über ihrer Stirn. Meine Mutter beugt sich aus dem Käfig vor und flüstert;
aber mit einem Flüstern, das ein flüsterndes angestrengtes Schreien ist. Meine
Mutter sitzt im Soufflierkasten des fürstlichen Putbuser Sommertheaters und
liest laut den Klavierauszug und spricht scharf flüsternd den Text der lustigen
Operette. Die Sänger haben ihre Rollen nicht gelernt. Sie schwimmen, wie sie
es nennen. Stumme Fische. Stummes, staubbahniges gefirnistes Aquarium. Aus
der Schau meiner Mutter gesehen, wenn sie über den Klavierauszug blickt, nur
Füße und die Füße verstaubt und feucht und arm. Erst wenn meine Mutter zu
den Sängern aufsieht, beschwörend das Wort ruft, das sehnlich erwartete, das
lustige, diesmal voranbringende, erkennt sie die Gesichter der Akteure. Hung-
rige Gesichter, wütende, mitleidlose; sie fordern von meiner Mutter das Leben.
Denn auch sie, die Elenden sind aus Lehm gefügt und verlangen, durch einen
Atem belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist herrisch, arrogant, eingebildet, vor-
wurfsvoll, die Gesichter der Sänger klagen an, weil ihre Ohren oder ihr Gedächt-
nis oder ihr Verstand die Sätze, die meine Mutter flüstert oder schreit, nicht
empfangen oder nicht begreifen. Die Sänger öffnen den Mund, aber sie singen
nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt, wieder zu schließen; meine
Mutter blickt in kleine schwarze Löcher unsäglicher Torheit, und die Augen
der Sänger wandern oder stechen, sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht
sich erschlaffend hin. Am Himmel, der so fern ist, versammeln sich Gewitter.
Der Regisseur schimpft, er schläft mit der Soubrette, er schimpft nicht mit der
Soubrette, die alte Bettstelle knarrt, die Zimmer vermietende Fischerswitwe
horcht und erregt sich hinter der aus Holz gefügten dünnen Wand, das stein-
schwere Federplumeau wird von verschwitzten Gliedern zurückgestoßen‚ die
Nacht beklemmt in der Mansarde, wer in den Tropen war oder was über Tro-
pen las, mag denken: Lianenwald, die Nacht wetterleuchtet, das Schwein grunzt
in der Witwe kleinem Stall, trüffelt den nassen Soubrettenleib, Quell unter
feuchtem Moos, Moder wie in einer Grabkammer, das Stichwort nicht ver-
nommen, leichenweißes gepudertes Gesicht, Rinnsale von Hitze und Angst,
kein Begreifen, natürlich nicht, woher begreifen? der Regisseur schimpft nicht
mit den Sängern, Kollegen setzen sich zum Skat, der dritte Mann gibt, die Kie-
bitze glotzen, wissen es besser, lustvoll ein Korn genommen und noch ein
Bier, was sind das für Märmer in ihren Hosen, sind auch Soldaten gewesen, mit
Auszeichnung gedient, im Baltikum, nein beim Fronttheater, der Regisseur
schimpft zu meiner Mutter hinunter, wer arm ist, sitzt unten, er wird erhoben
werden, sagt Pastor Büttentien, Hofprediger zu Putbus, der Regisseur hüpft
in die Luft, wahrlich, Gott ergreift ihn, er macht nun den Buffo, hopst umher,
Schwenkebauch, nun alle, untergefaßt, Arm in Arm, das Universum noch ein-
mal in die Schranken gefordert, und das Bein hoch, rot in die Fußrampe ge-
treten, Heiligenscheine aus den Soffitten. Wirbel des Finale, die Liebe die
Liebe ist eine Himmelsmacht
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