Satzvorlage Seite 061

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
61
Von Anbeginn verurteilt 841
scharfe Mäusezähne den Band der Folianten zerfetzen, Mäusedreck hinter-
lassen, das Schlafgewand, das Arbeitskleid‚ heruntergekommene Kutte des Hei-
ligen Benediktus ist speisenfleckig, notdurftverschmiert, schnupftabakgebräunt,
pfeifenglutgesengt, eine Kappe deckt das ehrfurchtgebietende schüttere Haar,
alter Duttel, sagen sie, und überall lugen die Geier, wetzen die Schnäbel, signa-
lisieren den Würmem, die Seide der Kappe mit Blümchen bestickt zu Weih-
nachten oder zum Jubelfest von der Gattin, der dreißig Jahre lang bitter treuen,
enttäuscht, ach, wovon, unverstehend, wie könnt es anders sein, oder von der
Tochter, der zu ihm aufblickenden, die es graut, wenn sie sieht, in seinem
Gesicht sieht, was sie wird, wie sie wie er wird, und der Vater bedeckt die
Augen, denkt, sie wächst heran, das Kind, zwanzig Jahre, dreißig Jahre und
der Dämmerung zu, dem Stift für die mittellosen Töchter gebildeter Stände,
oder sie wird dem letzten Famulus endlich angetraut zu später Fortpflanzung,
ein blasser ehrgeiziger Judas, dem auf die Leiter geholfen wird, mit Bücklingen
und Winkelzügen und Selbstverleugnung in die Fakultät gebracht, der präsum-
tive Fälscher und Vernichter der literarischen Hinterlassenschaft, der natürliche
Verräter der alten Koryphäe, doch vielleicht trägt der Meister noch die Perücke,
den Zopf fritzisch gebunden, ferkelschwänzig, mehlpuderbestäubt, oder er ist
schon mit dem Schlapphut, das Silberhaar schön gepflegt, glänzend in langen
Locken, auf dem Weg zur Paulskirche, seiner Vollendung nahe, eine Spott-
figur der Fliegenden Blätter, Herr oder nicht einmal mehr Herr eines verges-
senen Regenschirms, Mut, Geduld, im Schrank warten schon der Sedanfrack,
die Reserveleutnantsuniform und all die Lakaienröcke seines erbärmlichen
ordengeschmückten Niederganges. Die Decke des Zimmers drückt, wie eine
schwere Hand, das Fenster ist klein, als koste das Licht Geld, vor den unter-
teilten Scheiben jedoch das Idyll der Laube, Jasmin und wilder Wein, so siehts
das Gemüt, er hat keins, er haßt es, jede Stunde bleibt dunkel, bei Sonne im
Schatten des Turms von Sankt Nikolai, bei Nebel im Schleier der See, in der
Waschküche der Welt, im Steckkissen der Schöpfung. Homer schaut dem Pro-
fessor zu, sein blindes Haupt auf die Estrade gesetzt, oder ist es Perikles, der
gepriesene Staatsmann mit dem Helm? Unsere schwache alte Hand klammert
sich doch energisch an das rettende Pult, während die andere zittemd begeistert
die Säule zeichnet, wir messen auch mit dem Zirkel, rechnen mit dem Winkel-
maß, nach einer klassischen Vorlage, dem zerstörten Tempel von Athen oder
einem geborstenen Bogen vom Forum, lateinische oder griechische Schrift.
Schimmel frißt sie. Auf der Wiese hinter der Laube hängen sie die Wäsche auf,
Gattin, Tochter, Magd, vielleicht eine und dieselbe Person, vom Pflaumenbaum
zum Apfelbaum, seine Hemden, Galeerenlumpen, Mönchsbinden, Kragen von
spanisch-katholischer Weltfrömmigkeit, humanistischer Frivolität, lutherischer
Reform, calvinischer Strenge, ignazistischer Schläue, dann Jakobinerjabots,
Fichtemoden, Hegelschleifen, Turnwarttrikots, Metternichpolster, Vatermörder,
küraßsteife Regierungsbrüste, angstschweißaufsaugende Jägerhemden, dazu den
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