Satzvorlage Seite 011

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
5 Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
11
50 Wolfgang Koeppen
Knechtes, die Pferde sind freundlich, sie haben sanfte dunkle Augen, der Knecht
treibt mich mit Flüchen aus dem Stall, im Konzerthaus beginnen sie Klavier zu
spielen, Gelächter gluckst, Worte stürzen zerbrochen über die Straße.

Die Gardine wird zur Seite geschoben, ich stehe vor dem Haus, ich beobachte
alles genau, eine Frau zeigt sich am Fenster, klopft gegen die Scheibe , es gilt
mir, ich erwartete es, Geheimnis durchrieselt mich, ich denke, sie schlägt mit
einem goldenen Ring, pocht mit einem grünen Edelstein, sie hält etwas in der
Hand, sie lockt mich, ich kann nicht erkennen , was sie mir zeigt, aber es ist
unendlich begehrenswert, die Hand winkt, ich fürchte mich, ich blicke mich
um, nach Beistand , der mit mir geht, nach Feinden die mich hindern könnten,
ich fühle mich versucht, ich kann nicht widerstehen, ich klettere die drei Stein-
stufen hoch, tapse durch die offene Tür, bin der dicke Gutsbesitzer im Pelz
oder in Nanking, atme Bier und Rauch, höre nun lauter das Klavier, heller
das Lachen, schärfer die Rede, die Treppe führt steil empor, ein roter Läufer
bedeckt sie, der rote Läufer weist den Weg, ich strenge mich an, ich krieche
höher, der Läufer ist rauh, der Läufer schrammt die Hände und die Knie, im
ersten Stock hängt die Kokosnuß, eine Alabasterleuchte von Palmenblättern
umrankt, der Gang ist schummerig, er dunstet, er brodelt, er wärmt wie der
Stall, aber das Tier , das hier wohnt ist kein Pferd, das kitzelt die Nase wie in
Dehmels Barbiersalon, scharf nach Seife, nach Blumen , die getrocknet im Fami-
lienalbum liegen unter Verwandten unter Toten unter Leuten , die irgendwer
kannte und deren photographisches Abbild man entgegennahm und aufbewahrte
und die man sich nicht mehr vorstellen kann, auch nach Blumen , die zu lange
in der Vase im Wasser gestanden haben, ekel nach gestocktem Blut, eine Tür
wird spaltbreit geöffnet, Licht sticht, Stoff fällt zurück, ein Arm blüht weiß,
die Frau zieht mich herein, sie hat an das Fenster gepocht, sie hat mich gelockt,
sie trägt ein Gewand , wie ich es noch nie gesehen habe, das Kleid einer Königin
oder eine Fee, es scheint aus lauter Spitzen und Federn zu sein, ein bunter
Vogel stelzt vor mir, flattert, schlägt die Schwingen, sprengt die Kammer, das
Haar der Frau leuchtet wie eine blonde Sonne, Rapunzel aber mit einem
Harlekinsgesicht, rotweißverschmiert, die Augen teerpfützenblau, die Brauen
steinkohleschwarz, ihre Brust ist wie ein Bett, zwei hochgeschüttete Pfühle, ein
Schutz in kalten Nächten, die Stimme jubiliert, eine Sängerin, eine Nachtigall,
sie schenkt mir , was sie mir am Fenster zeigte, einen Reiter auf einem Pferd,
Reiter und Pferd sind aus Holz, das Pferd ist weiß und schwarz, der Reiter ist
weiß und rot, ich liebe den Reiter und sein Pferd, ich werde sie nie wieder
hergeben, ich drücke sie gegen die Brust und fange zu weinen an, ich habe
meine Mutter betrübt.