Satzvorlage Seite 005

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)" 2
Kopie
nein
Durchschlag
nein
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44 Wolfgang Koeppen
demütigen lassen, ihrer Herkunft wegen. Maria beneidet Fräulein Wronker
wegen ihres Gespanns und ihrer Aussichten, aber sie verachtet sie zugleich und
ganz echt und denkt, mit der tausche ich nicht. Bei Susemihl riecht es nach
Marinaden. Wein aus Frankreich in Fässern und in soliden Flaschen. Lager-
bier gärt. Aus Brüggemanns Leinen Warenhaus kommt der leimige Stärkegeruch der
Stoffe. In Bugenhagens Buchhandlung knistert Gelehrsamkeit aus Papier wie
ein Kamm, den man durchs Haar führt. Trocken, manchmal ein Funke.

Alle Fenster beobachten Maria, Krötenaugen aus einem trüben Wasser.
Maria ist neunzehn Jahre alt und blüht. Bismarck zieht sie wie eine von Borsigs
neuen Lokomotiven vorwärts. Bismarck ist groß, er ist kräftig, er beschützt
sie, seine Muskeln spielen unter dem kurzen Haar, sein Mund droht, sein Blick
ist treu. Maria kennt alle Farben der Landsmannschaften, der Burschenschaften,
der Corps. Es ist die große Welt , die über die Lange Straße läuft, denn alle die
eine bunte Mütze tragen, ein Band über der Brust haben und Schmisse im Ge-
sicht, sind berufen, sie sind die Gesellschaft, die Stützen von Thron und Altar,
sie sind das Deutsche Reich. Nichts zählt außer ihnen , die hervorragen. Der
junge Kommis bei Susemihl errötet, wenn Maria kommt, ein lächerlicher Mann,
ein Heringsbändiger, auch wenn er für sie den einen Salzfisch als ihrer und
ihrer Mutter Mittagbrot mit der Holzzange aus der schuppenschillernden Lauge
holt. Den Schuster muß sie bitten, die durchgelaufenen Sohlen ihrer Schuhe
nocheinmal, ein letztes Mal zu richten. Der Schuster ist kein Mann, genau
genommen ist er kein Mensch. Er ist eine Funktion, er hat Schuhe zu machen
und zu flicken, weil die Gesellschaft, diese sakrosankte Institution, zu der Maria
nicht gehört, zu der sie sich aber zählt, ihre Füße bekleidet. Des Schusters Hand
ist geschickt, aber sie gilt nichts. Schließt er die Werkstatt, tritt er zurück in
die Gesichtslosigkeit der Gemeinen. Vor der in Drillich gekleideten Mannschaft
auf dem Exerzierplatz, vor dem roten Klinkerbau der Kaserne steht der Leut-
nant. Ihn grüßt selbst der Borusse mit dem weißen Stürmer zuerst. Maria ist gut-
mütig. Sie hätte den Schuster als Bettler bemitleidet; wäre er wegen Miet-
schulden aus seiner Werkstatt oder seiner Wohnung geworfen worden, hätte
sie sein Unglück gerührt, wie ihr eigenes, ihrer Mutter trauriges Los sie immer
wieder zu Tränen brachte. Maria ist gutmütig, aber der Schuhmacher als Stand,
als Handwerker ist ein unmöglicher Mensch. Da Maria arm ist, verehrt sie den
Besitz. Da sie sich deklassiert fühlt, bewundert sie um so mehr die herrschende
Klasse. Der Arme hat an Brot zu denken. Der Reiche beschäftigt sich mit
Blumen. Maria hat keine Ahnung, wie Besitz erworben wird. Sie versucht sich
mit verbundenen Augen (die Binde der Torheit liegt über ihnen) in dem
Balanceakt, ohne Geld und ohne soziale Stellung eine junge Dame zu sein.
Wer arbeitet, Dienste leistet, einem Erwerb nachgeht, ist aus der Damenwelt
ausgestoßen, und so leben Maria und ihre Mutter vom Zimmervermieten an
Studenten und manchmal auch an einen Dozenten. Da ist sie zu Bismarck
gekommen, der einem Herrn gehört, der die venia legendi der Augenheilkunde