In meiner Stadt war ich allein (Romanisches Café) 3

Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

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In meiner Stadt war ich allein
Absolute Datierung
-
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Traglasten. Ich hockte auf einer Kiepe. Häcksel drang
durch das Geflecht. Ein Huhn gackerte. Ein Schwein
grunzte im Sack. Der Mann, dem das Schwein gehörte,
sagte, was liest du da. Ich sagte, Tairoff, das entfesselte
Theater. Der Mann sagte, du wirst dir die Augen ver-
derben. Es schneite. Es war kalt. Die Heizung war nicht
an. Es war trübe. Der Mann schenkte mir ein Ei.
Es schneite. Berlin lag im Schnee. Das Reich lag im Schnee.
Der Stettiner Bahnhof war eine Höhle aus Wind und Ruß
und den Geräuschen großer Bewegung. Er war Babylon;
ein Ort, um aufzubrechen. Mir schmeckte die Luft. Ich
schmeckte Freiheit. Sie standen auf allen Straßen, sie stan-
den gegen die Mauern gelehnt, sie froren, sie hungerten,
sie waren Arbeitslose, Ausgesteuerte, Obdachlose, sie waren
die Revolution. Sie standen anders herum als ich. Sie ge-
nossen es nicht. Ein Zug bildete sich, wie von selbst, es
hatte kein Signal und keinen Befehl gegeben, und ich lief
hinter dem Zug dieser erschöpften, hoffnungslosen Ge-
stalten her, und einer fragte mich, hast du die Karte,
und ich sagte, was für eine Karte, und er schimpfte, die
Stempelkarte, was denn sonst, und ich sagte, ich stempele
nicht, und er stieß mich zurück und sagte, mach, daß du
fortkommst. Es kam Polizei. Die Schupos sprangen vom
Deck ihrer grünen Wagen. Sie schwärmten aus. Pfiffe gell-
ten. Die Polizisten hoben ihre Knüppel. Sie zerstreuten
uns. Ich rannte mit den anderen.
Mein Herz bebte. Es schlug hoch. Das war es nun, ich
hatte es gefunden, das wollte ich zeigen, die moralische
Anstalt, das entfesselte Theater, die Straße, die Hungern-
den, die Frierenden, die Armen, die Desperaten, die rote
Fahne, das Lied der Revolte. Ich ging schneller und für
eine Weile wie einer, der ein Ziel hat. Ich dachte an das
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Schauspiel »Gas« von Georg Kaiser. Ich stellte das Drama
»Masse Mensch« von Ernst Toller in erhabene, düstere
Kulissen. Auch der Schlesische Bahnhof war eine Höhle aus
Wind und Ruß und Gekreisch. Er war nicht Babylon. Er
war eine Hölle der Armen, die nicht wußten, wohin.
Gegen Abend war ich in Grünberg. Es war sehr kalt. Ich
suchte das Theater. Ich kam aus dem Schnee. Ich sah Licht.
Ich hörte Gesang. Ich spürte Wärme. Der Direktor war
in karierte Wolle gekleidet. Er sagte, da sind Sie ja. Er
sagte, das ist gut. Irgendeiner war krank. Er sagte, Sie
springen ein. Er sagte, heute in Salzach. Er sagte, Frack.
Ich sah ihn an und dann auf mein Plaid, in das mein
Kamm, ein Hemd und meine Bücher gewickelt waren;
und das war alles. Er sagte, ach ja, Ihre Koffer sind noch
nicht da. Er sagte, schön, gehen Sie zum Fundus. Ich sagte,
»Gas«. Kaiser, sagte er. Er verzog das Gesicht. Er sagte,
lieber Freund. Er sagte, wir werden sehen.
Sie waren lustig. Sie waren traurig. Sie aßen belegte Brote.
Sie taten gern, was sie taten. Sie taten es nicht gern. Sie
tingelten, sie sangen, sie hüpften. Sie schliefen miteinander.
Sie hatten ihre Liebschaften. Sie fürchteten sich allein in
der Nacht. Wir froren im Bus nach Salzach. Sie hatten
Sorgen. Sie kamen mit der Gage nicht hin. Sie hatten Kin-
der. Die Kinder wurden groß. Sie waren nicht unfreundlich.
Aber sie waren nicht meine Leute. Ich verschloß mich
ihnen. Ich kroch in mich hinein.
Sie zogen mir den Frack an, zu groß und unendlich zu
weit, ich war nicht zu sehen in dem Frack, sie stopften
mir ein bretthart gestärktes Vorhemd in die Weste, sie
banden mir einen Kragen und eine Schleife um, es schlot-
terte, sie stießen mich auf die Bühne, da war eine feine
Gesellschaft, sie schlürfte Wasser, die Kelche funkelten,
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