Erstausgabe (1976) Sequenz 39

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
39
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Die Deutschen Lichtspiele hatten mich immer schon angezogen, ihr langer, am Tage schummerig zwielichtig träumender, am Abend und an den Sonntagnachmittagen festlich erleuchteter Gang mit den schwarzen Ta<100>feln der Verkündigung zu erwartender Freuden, den Werbeparaden, den Standbildern aus den Filmen, die vordem nie gesehene und unerreichbare Menschenwesen in den lockenden glanzvollen Welten des Reichtums, der Lust, der Ferne, des Überflusses und der Abenteuer, freilich auch der Schmerzen und Gefahren zeigten, einen Kosmos voller Fortüne und Tücke, voll Fallgruben und Versuchungen, frühem und gewaltsamem Tod, aber auch satt von Triumph und Göttergeschenken. Die grellbunten Jahrmarktsplakate der flimmernden Spiele lockten mit überlebensgroßen, in einem fast nicht zu ertragenden Maß liebender und hinsterbender Münder oder dem Dolch in der leidenschaftlich erregten, blutig aufgerissenen Brust. Jeden Dienstag und Freitag wechselte das Programm, änderten sich die Ausstellungen und die Vorankündigungen, und ich ging hin und betrachtete alles und sah mich verfolgt und am Ende überlegen, ich sprang auf fahrende Züge, von steilen Schornsteinen in die Gondel vorüberschwebender Ballons, ich kämpfte mit Indianern, eroberte Land, rettete Frauen und verzichtete auf den Dank, um als Gespenst in alten Schlössern die weiße Beute aus den Himmeln der Betten zu heben, Glück zu haben, Gold und Millionen zu gewinnen, gehängt zu werden mit einem Lächeln. Ich atmete gierig die dumpfe verbrauchte Luft, die durch den schwarzen staubschweren Vorhang brach, die den Saal von dem Gang und dem kleinen Rokokokäfig der Kasse trennte. <101>Manchmal war mein Verlangen zu schauen, was in der durch den Lichtstrahl des Bildwerfers magisch erhellten Nacht vorging, so groß gewesen, daß ich meiner Mutter Geld gestohlen, mir aus Höfen und fremden Speicherkram die Würde des erwachsenen Mannes, einen steifen Kragen, ein panzerfest gebügeltes Vorhemd, einen zerdrückten Bürgerhut besorgt hatte, um in dieser Verkleidung als ernster Mensch in das Jugendlichen verbotene schwarzweiße Paradies zu gelangen. Jetzt jedoch war ich des Kinos Gefangener, Herr Segebracht, der Besitzer der Deutschen Lichtspiele, hatte mich auf meine Bewerbung hin angenommen, den Besuchern seines Theaters die Plätze anzuweisen und für das Haus Besorgungen zu erledigen. Niemand fragte mehr, ob ich nun alt genug sei, hinter dem schwarzen Vorhang zu verschwinden und den Schatten zu dienen. Ich brauchte mich nicht länger mit einer Haltung gebenden Wäsche und abgetragenen Hüten zu kostümieren. Am Abend eilte ich mit einer Taschenlampe, deren Batterie ich nach Herrn Segebrachts strenger Weisung möglichst zu schonen hatte, durch die dämmerigen Reihen, Ariadne gleich, die durch das Labyrinth führte. Aber Theseus war tot, ich hatte ihn nie vergessen, er hatte mich zum ersten Mal in die erregende Welt der Zauberspiele mitgenommen, ich war sechs oder sieben Jahre alt, der Krieg war ausgebrochen, und Theseus war unser möblierter Herr, doch von geringem Ansehen gewesen, kein echter Zimmergast, kein Student <102>oder gar ein Dozent, er war nur Verkäufer in Erdmanns Warenhaus, Substitut für Stoffe, wir hatten ihn besucht, ich hatte ihn mit der Elle in der Hand, die er wie die Corpsstudenten das Rapir hielt, zum Stoß gegen einen unsichtbaren Feind bereit, vor dem Ladentisch gesehen, ein Held wie Siegfried einer war, aber keiner außer mir hatte es bemerkt oder anerkannt, daß er ein Held war und vor seiner Fahrt zum Minotaurus stand. Gegen Abend hatte er leise an unsere Tür geklopft und gefragt, ob er mich mitnehmen dürfe in die Deutschen Lichtspiele, und meine Mutter hatte es nicht erlauben wollen, ich hatte gebettelt und geweint und geschrien, denn die Deutschen Lichtspiele schienen mir ein Tempel zu sein, das Lockendste in der Welt, der Schrein der Wahrheit, das alles erklärende Geheimnis, das die Erwachsenen mir eifersüchtig vorenthielten, und daß Theseus mich mitnehmen wollte, war das unverhoffte Glück, der entscheidende glückliche Zufall der Märchen, es war die nur mir bestimmte und nie wiederkehrende Gelegenheit, eingeweiht zu werden, und wenn ich auch nicht Pastor Kochs theologisches Rüstzeug besaß, so fühlte ich doch, daß ich die Frucht vom Baum der Erkenntnis essen würde. Theseus sagte zu meiner Mutter, sie solle mich doch mit ihm gehen lassen, er fühle sich einsam, es sei sein letzter Abend, er habe seine Einberufung bekommen, und meine Mutter blickte ihn an, und ich weiß nicht, ob sie sah, wie er vor ihr stehend verschwand, sich auflöste, einfach nicht <103>mehr da war und die Luft sich dahin drängte, wo er gestanden hatte, die Luft nahm seinen Platz ein, als habe es ihn niemals gegeben, und so faßte er meine Hand und ging mit mir hinüber zu den Deutschen Lichtspielen. Wir schritten durch die leuchtende Pforte, gingen durch den vielversprechenden hellen Gang, und Theseus kaufte zwei Logenplätze an seinem letzten Abend in unserer Stadt, in der er Seide verkauft hatte und Barchent und andere Gewebe, und setzte sich mit mir, einem Kind, das alles bestaunte und zum erstenmal die Wirklichkeit in der Dunkelheit sah, in dem kistenartigen Verschlag der Loge, ganz hinten im Saal. Wir bewunderten bald einen großen, breiten, befehlenden Mann, der Hindenburg hieß und tausend Russen oder auch hunderttausend Russen, fliehende insektengleiche graue Schwärme, in die masurischen Sümpfe trieb, und eine Hand, eine Zauberhand, erschien auf der leuchtenden Vorführfläche, hielt einen Stift und zeichnete flink und begeistert den Kaiser mit Adlerhelm und Adlerblick und im gezwirbelten gleichsam blitzenden Spitzen des Bartes in eherner Wehr und mit Stulpenstiefeln, und er trat mit diesem n blank gewichsten sporengerüsteten Stulpenstiefeln irgendwelchen jämmerlichen Gestalten, die unsere Feinde waren, und Serb und Russ und Franzos und Brit hießen, in die angstvollen Hosen, in die davonlaufenden Hintern, die sie sich dann hielten, jammernd und in ohnmächtiger niedriger Wut. Später erschien vom Lichtstrahl, der Sternenstaubbahn <104>aus der Kabine des Filmvorführers gebracht, passenderweise, doch in anderer Landschaft oder Kulisse der Tod im Bild. Der zivile Tod schritt mit geschulterter Sense bäuerisch ruhig über einen Acker, der wohlbestellt, fruchtbringend und kein Schlachtfeld war. Trotz des Mähmessers wirkte der ruhig über die Schollen schreitende Tod wie der vertraute Sämann der Fibel bei der Saat. Er trug einen schwarzen Schlapphut wie Pastor Koch, wenn der Seelsorger zu uns in die Stube trat, uns zu ermahnen; nur das Knochengesicht des Todes gab sich freundlicher als Pastor Kochs fleischiges Kinn. In dieser Nacht träumte ich schwer. Meine Mutter saß an meinem Bett und hielt mich fest, während ich um mich schlug und schrie. Es war grade ein neues Wort in die Welt gekommen und wurde gern und beinahe ehrfürchtig gebraucht, was sich später gab, als es zuviele wurden, der Ausdruck Kriegerwitwe, und ich meinte, meine Mutter schwarzgekleidet, über eine Todesnachricht gebeugt zu sehen. Gegen wen kämpfte ich mich durch die Nacht? Am Morgen schon war mir im Gedächtnis nicht der Tod, allein der Kaiser geblieben in all seiner Pracht und Stärke, und bald sagte mir meine Mutter, daß Theseus gefallen war. Mich hatte er im Labyrinth der modischen flimmernden Schatten in ihrem bald alltäglichen Landregen zurückgelassen. Die Schatten weinten nicht um Theseus. Ich sah, ein Diener des Minotauros, der sich manchmal als Ariadne fühlte, die Schatten zwei- oder gar dreimal am Tag und durch<105>schaute sie allmählich in ihren stereotypen Wiederholungen. Ich betrachtete die Scherzhaften, wie sie einander begegneten, umeinander schwärmten, buhlten, sich liebten, täuschten, haßten, mit Sehnsucht oder Abscheu immer ängstlich verfolgten, vor Verbrechen und selbst Mord nicht zurückschreckten, um endlich in der Gloriole der letzten laufenden Meter ein Mann und ein Weib, Held und Heldin, ein Paar mit Aussicht auf Nachkommen und Fortbestand der wahren falschen Gefühle einander in die Arme sanken. Vor all den andern Menschen, die sie umgaben, in der Handlung weitergebracht, ihnen Freude und Kummer bereitet, Hindernisse in den Weg gelegt hatten, vielleicht auch freundlich gewesen waren, sprach keiner mehr, ihr Tod und Opfer war vergebens und gerechtfertigt durch das Glück einer höheren Klasse der Schatten. Arm in Arm, Mund auf Mund, zweidimensional klebten der weibliche und der männliche Star zusammen, das Markenzeichen eines Herrn William Fox, der sich beehrte, sie darzubieten.