Vom Tisch4

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

Archivmappe
Wkoe
Absolute Datierung
31.3.1972
Zuordnung
Fragment 22 48 47 42 46 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
eingefangen war, ich erschrak, sie war verhungert, aus ihrem Gesicht und
aus Hals und Brust und Leib hatte der Hunger gefressen, sie erschrak wie
ich, und ich war es_ vor dem sie zu erschrecken schien, mein Anblick, ich
merkte es, sie erstarrte vor der Front der Betten, sie blickte weg von mir,
schaute auf die Betten, in die ich mich plötzlich werfen wollte, von
Schwäche und Wut übermannt, von der Schwäche und Wut der Krankheit,
der Schwäche und Wut eines entsetzlichen verlorenen Jahres, der
Schwäche und Wut des verlorenen und gewonnenen Krieges, ich verhed-
derte mich in dem langen blauweißgestreiften preußischen Krankenhemd.
Der Kaiser war geflohen, Scheidemann hatte die Republik ausgerufen,
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren ermordet worden, Deutsch-
land veränderte sich, die Welt, in der ich lebte. Waren Jahre vergangen?
Heute scheint mir alles an einem einzigen Tag geschehen zu sein. An dem
Tag, an dem ich jung war. Nur wußte ich es damals nicht.
Er verkaufte Seide und andere Kleiderstoffe in Brüggemanns Kaufhaus.
Er wohnte möbliert in einer Mansarde an der Langen Straße. Er empfand
Zuneigung für die Mutter des Knaben. Wahrscheinlich aber hatte er paido-
phile Neigungen, und es war der Knabe der ihn anzog. Er geht mit ihm in
die Deutschen Lichtspiele, in die Abendvorstellung, sie sitzen in einer
Loge ganz hinten im dunklen Raum. Man sieht einen Film, in dem eine
Hand den Kaiser zeichnet wie er über seine Feinde triumphiert, man sieht
geschlagene Russen in Scharen auf Feldern und in Seen getrieben, wo sie
als Leichen schwimmen, man sieht Hindenburg den Feldherrn sich über das
Feld erheben, ein guter Vater, ein Fels, aus Stein. Man sieht zum Schluß
ein Drama in dem gemordet wird, ein hinkender Teufel schleicht durch das
Haus, dringt in die Kammer der Schlafenden, würgt sie oder saugt ihnen
das Blut aus der Kehle. Der Knabe träumt es. Er schreit in der Nacht, spürt
den Biß des Vampirs, den Griff des Würgers. Der Würger greift aber nach
dem sanften Verkäufer der Seide. Er bekommt am nächsten Morgen seine
Einberufung, zieht ins Feld. Er schickt einen Gruß aus Frankreich, steht in
einer Grabenstellung, beugt sich über den Grabenrand. Bald ist er tot.
Das fahrbare Feldbordell. Sieht er es nur oder wird er durch Kameraden
veranlaßt hineinzugehen? Dieser Besuch könnte dazu führen, daß er sei-
nen Tod ahnt, wünscht, ihm zustimmt. Es zerfällt für ihn die Welt der Da-
men die Seide kaufen, die Verehrung der Mutter. Die Mutterbindung des
Homosexuellen, der seine Veranlagung nicht erkannt hat oder nicht er-
kennen will.
Dieses Feldbordell könnte auch dem Theologen begegnen, eine Erfah-
rung der Erniedrigung, der Beharrlichkeit des Fleisches vor dem Tode.
6
Vom Tisch
Ich hörte die Schüsse, den Knall der Handgranaten, entfernt, über Höfe,
Dächer, Gärten, Echo hallte nach, senkte sich aus der Höhe, fiel in den Hof,
rauschte über mein Bett; sie kämpften am Markt, sie kämpften am Armen-
hof, sie verloren.
Die Bilder der Schauspieler auf einen Karton geklebt im Schaufenster
des Zigarrengeschäftes: der Mann im Abendcape, das weiße Futter seines
Mantels geschwungen wie Fledermausflügel, das Monokel im Auge, der
Zylinderhut schräg aufgesetzt, einen Stock mit einem goldenen oder sil-
bernen Griff wie zum Taktgeben oder zum Totschlagen erhoben.
Im photographischen Atelier hatte sich die junge Liebhaberin aufneh-
men lassen, im Glaszelt auf dem Dach, die vergilbten weißen Vorhänge
spielten Licht und Schatten, der Meister verkroch sich im schwarzen Sack,
sah die Liebliche kopfstehend, rückte ihr näher mit dem Kasten aus Mes-
sing und Holz, sah sie scharf, ließ den Kuckuck raus, sie hing mit Kirschen
im Mund unten in seinem Schaukasten, Wolken hinter sich, ein Engel
albernen Gesichtes, des Meisters Stolz, unter den Hochzeitspaaren, er-
starrt in der Furcht des Ehestandes, unter den Konfirmanden in den Alt-
männeranzügen, den zu weiten gestärkten Kragen, einen schwarzen Sarg-
trägerhut in der Hand, die sich verstecken möchte, das unnütze Glied steif
in der kratzenden Hose.
Die Handgranaten hatten das Atelier zersprengt, und im Schaukasten
waren hinter dem zersplitterten Glas den Photographierten die Glieder
weggerissen, manchen der Kopf oder der Arm, und das Mädchen, der En-
gel hatte einen Teil seines Mundes verloren, so daß die Kirschen nun
zwischen den halbierten Lippen wie in einer Wunde hingen und den Aus-
druck der Albernheit ins Gepeinigte verwandelten.
Durch die Lange Straße ging der Trauerzug, zwölf Särge auf Lastwagen
gestellt und einer nur wie symbolisch für alle auf dem Trauerwagen des
Fuhrunternehmers Kasch mit Pferden vor in schwarzen Talaren und
schwarzen Vorhängen vom Gestänge des Wagens, er lag wie in einem
schwarzen Himmelbett und auf ihm wie auf den anderen auf den Last-
wägen die Kränze mit den roten Schleifen, die Genossen den Genossen,
und die städtische Beerdigungskapelle spielte Unsterbliche Opfer ihr san-
ket dahin, und sie gingen schweigend hinterher und unbewaffnet und nicht
einmal mit Stöcken versehen, nur mit Fahnen einige, mit roten und den
gestickten und verzierten der Arbeitervereine, und die Lange Straße war
leer, vor den Läden waren die Rouleaus herabgelassen‚ und sie waren
nicht zu sehen, die Farbentragenden, die Zeitfreiwilligen, die schwarze und
die andere Reichswehr, die Kappleute mit dem Totenkopf und die aus dem
Baltikum mit dem Hakenkreuz.
7