Vom Tisch2

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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Wkoe
Absolute Datierung
31.3.1972
Zuordnung
Fragment 8 34 6 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
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nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
waren die wohlhabenden Toten, die Toten, die zu den Reichen gehört
hatten, die nicht in die gemeine Erde gelegt wurden, nicht in den Kel-
ler, nicht in das feuchte modrige Loch, nicht unter die Wurzeln, nicht
zu den Würmern, den emsigen, fleißigen, schmatzenden Würmern. Die
Toten kamen aus den alten Vampirgeschlechtern, dem mächtigen Kreis
der patrizischen Mumien, die schon immer ein stilles Heim für ihre ver-
storbenen Glieder unterhalten hatten, exklusiv und in Furcht und Hoff-
nung. Das Haus, in das wir eintraten, war leer, kein Mensch lag aufge-
bahrt, kein Leichnam hielt Tafel. Vielleicht war die Familie, die unter die-
sem Dach getrauert oder triumphiert hatte, ausgestorben oder war ver-
armt oder verfemt oder hatte den Halt verloren, den Glauben, den Dünkel
oder war einfach lieblos geworden, gleichgültig gegen die Ahnen, und wo
der Tote geblieben war, der hier geruht hatte, wußte man nicht, selbst der
Friedhofsgärtner schwieg oder wollte es nicht wissen, vielleicht hatten sie
bei Nacht des Toten Knochen hinausgeworfen auf den Friedhofsmüll, er
war exmittiert worden, weil plötzlich der Scheck nicht gedeckt, die Miete
nicht gezahlt war. Es waren aber Stühle zurückgeblieben, Sessel für die
Weinenden, Throne für die lustigen Erben, vergoldete Sitze, aber das
Gold war abgeblättert, man sah das wurmstichige bröckelnde Holz wie
aus verdorbenem madigen Mehl und darüber den Plüsch, der einmal -
nigsrot gewesen war, purpurn, und nun in schmutzigen Flecken, Streifen
und Schrammen sich auflöste, über gelbweißen Wolken aus faulender
Wolle. Wir waren vom Abschied erschöpft, waren vom Regen naß, ich
war vier Jahre alt, die Polster waren moderfeucht, und wir verbanden uns
mit den Polstern zu einem gemeinsamen Grab, in das wir geraten waren,
erleichtert, ausruhend, auf einmal zufrieden, den Friedhofsgärtner anblik-
kend, den freundlichen Gastgeber; wir hatten leider nichts, einander zu-
zuprosten, wir schönen Toten.
Ich entsinne mich genau des Gesichts der Großmutter, wie es über mei-
ner Wiege erschien oder der Kiste oder dem Wäschekorb, in dem ich lag,
ich weiß es nicht, ein bleicher Mond, wie ich ihn gesehen hatte, nachts,
wenn das Fenster offen war, der Mond ging auf, blieb über mir, Vollmond,
nicht groß, er betrachtete mich, und ich beobachtete ihn, es war ein tief-
trauriger Augenblick, wir waren uns beide der Wehmut bewußt, die un-
sere Blicke lenkte, und der bleiche kleine Großmuttermond hatte seine
Mondlandschaft, Mondtäler des Grams, Mondkrater um die verweinten
Augen, da sie leiden wollte, hatte sie das Leid gehalten, eingegraben in
ihre Züge, eine Bestrafung, da sie über den Zaun gesprungen war, über
die Hecke der evangelischen Zucht, über das Gitter des Herkommens, ver-
lockt von Unordnung, die aus der Behütung gesehen und für einen Mo-
ment der Betörung paradiesisch geschienen hatte, gleich aber, als der
Sprung geschehen war, der Fuß aufsetzte in Freiheit, und schon etwas ge-
brochen war, der Leichtsinn, der jubelnde Entschluß, der hohe Mut, die
kühne Freude, erkannte sie, die eine Bäuerin war, wenn auch von den
Gütern, das brache Land, den salzbitteren Grund, das faule Wasser, Un-
kraut und Kriechgetier. Warum ist die Sumpfdotterblume nichts wert? Die
Großmutter hat darüber nicht nachgedacht. Ihr blieb Unkraut Unkraut;
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Vom Tisch
selbst als das Unkraut der Welt sie durchrankte und sie mit ihm gejätet
wurde. Ich fragte bald, Unkraut, was ist das? Wer erfand den Namen, wer
gab ihn wem? Wer nahm sich das Recht? Wer Unkraut sagt, nimmt auch
den Schindanger hin, auf den er zu liegen kommt. Ich fand die Sumpfdot-
terblume schön vor allen Blumen und ergötzte mich früh schon an ihrem
prächtigen lateinischen Namen: Caltha palustris.
Dies alles weiß ich nicht. Ich glaube, mich zu erinnern. Aber wer ist das,
der sich erinnert? Der Unbekannte in diesem Zimmer, an diesem Tisch, vor
Briefen, die an einen anderen gerichtet sind, der einmal gewesen ist? Viel-
leicht erinnert sich einer an mich. Oder ich erinnere mich für einen. Du bist
es, den Erinnerung überfällt. Du erduldest Erinnerung. Vielleicht sind die
Bilder wahr. Doch Lügen wären nicht weniger wahr. Ein intensives Stu-
dium hat mich dazu gebracht, nicht zu wissen, wer ich bin. Ich weiß auch
nicht, wer er ist. Ich beobachte ihn, und wahrscheinlich beobachtet er mich.
Ich sah ihn, wie er in dem Warenhaus vor dem Spiegel erschrak, vor die-
sem abscheulichen Wesen in dem häßlichen Anzug, den er nicht kaufen
wollte. Und ich war auf der anderen Seite des Spiegels, wie er in einem
Kleid, das ich nie haben wollte. Ich handele, du handelst, er handelt. Ich
handele nie. Er, sie, es handeln mit mir. Ich habe die große Wohnung ge-
mietet. Die Wohnung ist leer. Ich habe keine Möbel. Mein Mörder läuft
vor mir oder hinter mir her von Zimmer zu Zimmer, es sind sechs oder
acht, mit der Küche und den zwei Bädern; mein Mörder und ich, wir sehen
uns nie, die Wohnung ist zu groß. Ich gehe und wasche meine Hände. Er
geht in das andere Badezimmer. Ich habe scharfe Ohren und höre, wie das
Wasser fließt. Hat er weiße Hände, rote, kurze, lange, Metzgerhände.
Arzthände, lüstern nach dem Skalpell, die Laugenhände der Hebamme, die
mich in die Welt hob, widerwillig? In der Schule die Geschichte von Pila-
tus. Der Lehrer erzählt sie gern. Er mag diesen Pilatus. Immer ereignet
sich was. Ohne unser Zutun. Zum Glück nehme ich es nicht ernst. Die
Scherzhaften. Hölderlin. Er weinte. Auch Bismarck weinte. Lag auf dem
Sofa im Vorzimmer, in Tränen aufgelöst, Schluchzen erschütterte den
mächtigen Leib. Er ertrotzte Verträge. Nahm er sein Denkmal ernst? Es ist
alles meine Schuld.
Was geschah am Tag der Mobilmachung? Der Leutnant kam mit seinen
Leuten auf den Marktplatz, die Soldaten stießen den Stand beiseite, den
Korb der alten Frau, die mir die Äpfel schenkte, es war vor dem Rathaus,
der Scheune der Schildbürger, der Bürgermeister trat aus dem Haus, auf
festen Stumpen, die goldene Kette um, die er für Eisen geben sollte,
der Apotheker vor der Apotheke, ein wohlgenährter Bauch, eine weiße
Weste, aus der Post traten die Postbeamten, in ihrer blauen Uniform gli-
chen sie den Soldaten, sie sahen wie die strammen Väter der strammen
Infanteristen aus, die Fischfrauen hielten den Mund, die Waldbeeren-
frauen weinten, die alten Häuser am Markt witterten Blut, erfahrene Gie-
bel, gutes Sterben, Herr Störtebecker, hochzuverehrender Herr von Wal-
lenstein, Durchlaucht, unsere liebe Majestät, Herr Gustav Adolf, feste
Burg, in Rutenbergs Weinstube ging es hoch, den Franzosen den Hals ge-
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