Von Anbeginn verurteilt2

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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Wkoe
Absolute Datierung
1.9.1969
Zuordnung
Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)" 26
Kopie
nein
Durchschlag
nein
836 Wolfgang Koeppen
unter der Flußhaut trieben wie faule Baumstämme phosphorisierend die alten
Leviathane des Buchs der Bücher. Auch Platon trat an mein Bett: gar oft Eche-
krates, hatte ich Sokrates schon bewundert, doch nie so wie jetzt. Grüne Tapete!
Wer sie kleisterte, lag im Spital oder war tot. Schimmel grünte: da war meine
Burg, war mein festes Lager, war der Matratze Berg und Tal. Über Eck stand
das Bett meiner Mutter, es war leer an diesem Abend und zu dieser Stunde,
und Später war das Bett meiner Mutter immer besetzt, und dann war es immer
leer, bis ich verkaufte oder es mir weggenommen wurde, oder es verloren ging.
Dann war noch der Tisch da, an dem wir saßen, wenn meine Mutter da war
und wir etwas zu essen hatten, oder an dem wir nur saßen, wenn wir nichts
zu essen hatten, nur so, und manchmal redeten wir miteinander und manchmal
nicht und wir verstanden uns und verstanden uns nicht. In dem Schrank war
das Brot wenn wir Brot hatten, uud meine Mutter hatte den Schrank abge-
schlossen bevor sie zur Arbeit gegangen war, damit ich das Brot nicht aufessen
könnte, aber ich hatte einen Nagel und hatte ihn gebogen und platt geschlagen,
und mit dem Nagel konnte ich das morsche Schloß des alten Schrankes öffnen,
und ich nahm das Brot und biß in das Brot und stopfte das Brot in mich hinein,
und es würgte mich, weil meine Mutter weinen würde. Eine Glühbirne hing
an der Litze unter der niedrigen Decke, sie glühte schwach und durfte nicht
glühen, ich sollte schlafen oder in die Finsternis starren, wenn ich Licht hatte,
verschwendete ich es, meine Mutter konnte das Licht nicht absperren, und dann
kam der Mann mit der Rechnung, der es absperrte, und wir saßen beide im
Dunkel, meine Mutter und ich, und eine Frau, die zu uns gekommen war, hatte
die Glühbirne nackt genannt, ein nacktes Licht, das gefiel mir sehr, nackte Glüh-
birne, nacktes Licht, sie bauten ein Zelt, draußen war die Stadt, war der Feind,
war der Feind auf dem Feld, waren Wölfe und Jäger im Wa1d, und auf der
zerrissenen Wolldecke, in die ich mich gehüllt hatte, lagen die Bücher aus allen
Bibliotheken der Stadt und der Universität, und Pastor Koch, der die Bücher
sah, sagte, du bist doch kein Bolschewist, und ich sah ihn an und zählte die
Schmisse in seinem roten vollen Gesicht und fragte, was ist ein Bolschewist,
und ich blickte durch ihn hindurch vielleicht bis nach Rußland hinein, und dann
lagen da die Zeitschriften, auf die unsere Stadt lüstern war und die ich für Alts
Buchhandlung austrug, und sie hießen »Der Junggeselle«, »Das Bunte Maga-
zin«, »Das Neue Leben«. Ich hätte lernen können, wie das Leben ist. Ich lernte
es nicht. Ich wußte nicht, wie Mädchen aussahen und ob sie so aussahen, wie
sie auf den Bildern des Neuen Magazins aussahen mit wenig oder mit nichts
an und wie Knaben, die heimlich nackt baden und sich erregen, und die Mäd-
chen waren glatt wie die Rücken der Knaben, und wenn ich im Schulhof die
Mitschüler gemieden hatte, so mochte ich jetzt doch mit einem ringen, nackt
und um keinen Preis, und ich suchte ihn und fand ihn nicht, und die Mädchen
waren auch üppig, und ich liebte sie nicht und haßte sie nicht, ich streifte mein
Hemd ab, es war mein einziges Hemd, ich trug es in der Nacht und trug es am
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Tag, wir hatten auch eine Küche, die Küche war neben der Kammer, und ich
lief durch die Kammer und lief barfuß über den Ziegelboden der Küche, ich
spürte unter meinen nackten Sohlen den Ziegelstein, kalt, ausgehöhlt und sanft,
der kalte Stein schmeichelte meinen Füßen, er war wie die Mädchen, glatt,
sanft, auch üppig und kalt, ich hörte, während ich über den Küchenstein lief,
wie die Mäuse über den gemauerten zerfallenden feuerlosen Herd huschten
und sich im Reisig versteckten, das ich im Wald gesammelt hatte, oder sich in
nichts versteckten, einfach im kalten Feuerloch, weil ich kein Holz gesammelt
hatte, und ich dachte, während ich durch die Küche lief, warum fürchten sie
sich vor mir, der ich mit den Mäusen reden möchte, und warum bleiben sie bei
uns, sie finden nichts, und ich öffnete die Tür, die aus der Küche direkt in den
Hof führte, und ich lauschte in den Hof und lauschte der Nacht, die Nacht war
still, die Stadt war still, eine stille Stadt, ein stiller Erdkreis, wir wohnten im
Hof, wir wohnten in einem Schuppen, im Vorderhaus brannte ein einsames,
ein ungefährliches Licht hinter dem Fenster des alten Pantoffelmachers, er zog
noch in der Nacht den bindenden Faden durch den harten Filz, er war ein
Heimarbeiter und ein Greis, und was er am Tag oder in der Nacht vollbrachte,
wurde ihm schlecht gelohnt, und er hatte die Bibel aufgeschlagen bei seiner
Arbeit, weil er alt war und den Tod fürchtete, doch mir jubelten Engel, es
war Januar, die Luft war winterstarr wie sprödes Glas, das zerspringen wollte,
ich lief nackt in den knirschenden Schnee, über die splitternden Eisschollen der
Pfützen, ich hing mich nackt an die krumme Teppichstange vor der Küchentür,
ich zog mich hoch, einmal, zweimal, dreimal, ich erschöpfte mich in Dutzenden
von Klimmzügen, ich hörte vom Nebenhof den Hund des Schlächters, der
weinte, weil er sich fürchtete wie der Pantoffelmacher sich fürchtete, und der
Hund weinte leise, unterdrückt, weil er noch mehr als den Tod seinen Herrn
fürchtete, den Meister Hergesell, der ohne sein rechtes Bein und was man sonst
noch munkelte von Verdun zurückgekommen war und nun sein Bein und was
man sonst noch munkelte von seiner Frau oder von seinem Hund forderte, die
er prügelte, und von allen Tieren, die er schlachtete, und es durchfuhr mich
ein Strahl vom Himmel, ein Feuerbrand von den Sternen ging durch mich
durch, traf die gefrorene verschneite Erde: auf den Höhen, am ernsten Felsen-
hange, wo so gerne mir die Träne rann, säuselte die frohe Knabenwange schon
dein zauberischer Odem an. Oder nicht im Bett und nicht im Hof. Ich führte
eine alte Frau durch die Stadt, sie hing schwach und schwer an meinem Arm,
es hatte Mitternacht geschlagen, drei Türme wachten über uns, Sankt Nikolai,
Sankt Jakob, Sankt Marien, ihre Uhren hatten den letzten Schlag getan und
den Tag in jenes Nichtmehr gestoßen, über die Grenze, die wir gerade noch
zu erkennen glauben, unfaßbar nun unseren Sinnen und trostlos die Stunde
nicht genutzt, den Tag nicht gelebt, die Prüfung nicht bestanden, ins Dunkel
gesunken, unwiederbringlich und ewig verloren. Die Straßen waren leer, die
Plätze waren leer, die Häuser waren Särge, nebeneinander gereiht. Der Schritt