Anamnese3

Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

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Wkoe
Absolute Datierung
1.3.1968
Zuordnung
37 Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
256 Wolfgang Koeppen
und des kleinen Katechismus und seiner ehebett-treuen sich vermehrenden Pre-
diger und untertan der Obrigkeit, und sie blickt zum Himmel hoch und weiß,
daß dies ein Gestöhn der Hilflosigkeit ist oder, von anderer Hand gesetzt, aus
anderem Mund gesprochen, der Hauch der Kälte. Auf den Parkwegen prome-
nieren die Kurgäste, weil sie dazu hergekommen sind. Die Röcke der Frauen
sind nach dem Morden kurz, sie enden gleich unter dem Knie, das ist neu, man
findet es unerhört, eine Errungenschaft des Verfalls, ein Zeichen für das Welt-
ende, und die alte Fürstin von Putbus macht die Mode nicht mit, ihre Röcke,
Unterrock und Oberrock, fegen noch immer den Sand, hinterlassen eine deut-
liche Spur ihres Vorüberschreitens wie einst in Potsdam im Ehrendienst der
Kaiserin oder am Hof der Zarin, sie ist tot, von einem Strudel verschlungen,
einem Ungeheuer verspeist, und die Männer zeigten noch Würde, trugen sie
erhobenen Hautptes, hoch behütet, kragensteif, über dem Bauch goldgekettet
und alles Unaussprechliche unter Schwalbenschwänzen und anderen Schößen
wie in einen Sack gesteckt, so schritten sie aufrecht auf ihre Zukunft zu, die un-
glaublich fern und unsagbar dreckig, nur Kassandra erkennbar, in einem stol-
zen blendenden Licht das Grab verbarg, die großen neuen Leichenfelder. Meine
Mutter ist noch jung. Auch ihr Rock ist gekürzt. Meine Großmutter hätte den
Rock nicht gebilligt. Der Rock ist zerdrückt und fadenscheinig er ist aus einem
schäbigen billigen Stoff, einem Stoffersatz geschneidert, aus Brennesseln viel-
leicht, eine Erfindung der großen Zeit und von ihr übrig geblieben. Die grauen
Zwirnstrümpfe meiner Mutter zeigen Löcher; einige sind gestopft, zum Stop-
fen der anderen reichte der Faden oder die Stunde nicht. Die Sohlen meiner
Mutter Schuhe sind durchgetreten, die Absätze schief. Der Kragen und die
Manschetten der Bluse meiner Mutter sind schmutzig. Meine Mutter besitzt
keine zweite Bluse. Manchmal wäscht sie die Bluse in der Waschschüssel auf
dem Waschständer in ihrer engen Kammer bei des Fischers Frau, der Fischer,
zum Butt geschickt, blieb im Skagerrak, aber meine Mutter kann die Bluse
nicht immer waschen. Auch ihr entflieht die Zeit. Die Kunst beansprucht sie.
Es ist aber nicht die Kunst, es ist das Schicksal. Meiner Mutter Gesicht ist so
weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz, erstarrt und
zerschrunden die wie Haut auf Dr. Oetkers Götterspeise aus entrahmter Milch,
meine Mutter ist gejagt, sie ist am stürzen, sie fühlt es, ist am Ende. Der Tod
steht hinter dem Baum, kein Freund, kein Feind, eine Amtsperson, verknö-
chert. Meine Mutter hatte auf vielen Ämtern vorzusprechen. Ihre Hand, die
den Bleistiftstummel über das gelbliche Kanzleipapier führt und mich in die
Verdammnis stoßen will, der sie nicht Herr wird, zittert. Meine Mutter sitzt in
einem Käfig. Der Käfig ist eng. Er hat drei Wände, und die drei Wande schlie-
ßen sie ein. Die vierte Wand fehlt. Die Luft in dem Käfig west nach Hobel-
spänen, nach Tischlerleim, nach roher Leinwand und scharfer Farbe, vor allem
nach Staub. Die Luft dunstet auch von heißen Füßen in für die Jahreszeit zu
festen und zu lange getragenen Schuhen. Der gepriesene Himmel der Bade-
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gäste ist nicht zu sehen. Die schöne Ostsee ist auch nicht zu sehen. Vom Som-
mer ist hier nur die Hitze zu spüren und fällt schwer in den Keller, den Käfig,
in dem meine Mutter sich nicht rühren kann. Eine Glühlampe glüht grell und
heiß über ihrer Stirn. Meine Mutter beugt sich aus dem Käfig vor und flüstert;
aber mit einem Flüstern, das ein flüsterndes angestrengtes Schreien ist. Meine
Mutter sitzt im Soufflierkasten des fürstlichen Putbuser Sommertheaters und
liest laut den Klavierauszug und spricht scharf flüsternd den Text der lustigen
Operette. Die Sänger haben ihre Rollen nicht gelernt. Sie schwimmen, wie sie
es nennen. Stumme Fische. Stummes, staubbahniges gefirnistes Aquarium. Aus
der Schau meiner Mutter gesehen, wenn sie über den Klavierauszug blickt, nur
Füße und die Füße verstaubt und feucht und arm. Erst wenn meine Mutter zu
den Sängern aufsieht, beschwörend das Wort ruft, das sehnlich erwartete, das
lustige, diesmal voranbringende, erkennt sie die Gesichter der Akteure. Hung-
rige Gesichter, wütende, mitleidlose; sie fordern von meiner Mutter das Leben.
Denn auch sie, die Elenden sind aus Lehm gefügt und verlangen, durch einen
Atem belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist herrisch, arrogant, eingebildet, vor-
wurfsvoll, die Gesichter der Sänger klagen an, weil ihre Ohren oder ihr Gedächt-
nis oder ihr Verstand die Sätze, die meine Mutter flüstert oder schreit, nicht
empfangen oder nicht begreifen. Die Sänger öffnen den Mund, aber sie singen
nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt, wieder zu schließen; meine
Mutter blickt in kleine schwarze Löcher unsäglicher Torheit, und die Augen
der Sänger wandern oder stechen, sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht
sich erschlaffend hin. Am Himmel, der so fern ist, versammeln sich Gewitter.
Der Regisseur schimpft, er schläft mit der Soubrette, er schimpft nicht mit der
Soubrette, die alte Bettstelle knarrt, die Zimmer vermietende Fischerswitwe
horcht und erregt sich hinter der aus Holz gefügten dünnen Wand, das stein-
schwere Federplumeau wird von verschwitzten Gliedern zurückgestoßen, die
Nacht beklemmt in der Mansarde, wer in den Tropen war oder was über Tro-
pen las, mag denken: Lianenwald, die Nacht wetterleuchtet, das Schwein grunzt
in der Witwe kleinem Stall, trüffelt den nassen Soubrettenleib, Quell unter
feuchtem Moos, Moder wie in einer Grabkammer, das Stichwort nicht ver-
nommen, leichenweißes gepudertes Gesicht, Rinnsale von Hitze und Angst,
kein Begreifen, natürlich nicht, woher begreifen? der Regisseur schimpft nicht
mit den Sängern, Kollegen setzen sich zum Skat, der dritte Mann gibt, die Kie-
bitze glotzen, wissen es besser, lustvoll ein Korn genommen und noch ein
Bier, was sind das für Männer in ihren Hosen, sind auch Soldaten gewesen, mit
Auszeichnung gedient, im Baltikum, nein beim Fronttheater, der Regisseur
schimpft zu meiner Mutter hinunter, wer arm ist, sitzt unten, er wird erhoben
werden, sagt Pastor Büttentien, Hofprediger zu Putbus, der Regisseur hüpft
in die Luft, wahrlich, Gott ergreift ihn, er macht nun den Buffo, hopst umher,
Schwenkebauch, nun alle, untergefaßt, Arm in Arm, das Universum noch ein-
mal in die Schranken gefordert, und das Bein hoch, rot in die Fußrampe ge-
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