MID836-12144-013

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment 1 34 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
brochen, den Rotspon ausgetrunken, es braust ein Ruf, der Landrat kam in
Reitstiefeln, Graf Beer Beerenhof, der Polizeihauptmann präsentierte,
Wangerins Papierhandlung zog die Fahne auf, Herr Wangerin hatte das
Monopol auf Schulbücher, der Leutnant hielt das Schicksal in weißen
Handschuhen, Seine Majestät, der Kaiser, sie alle schrieen, hoch, und
einige brüllten, hurra, der Himmel musterte sie, ein kaltes Auge, die Sol-
daten blickten mutig, in drei Wochen waren der Leutnant und seine
Leute tot.
Friedrich. Er ist unehelich geboren, und wenn sie ihn fragten, wer ist
dein Vater, dann sagte er, ich habe keinen Vater, und er lauerte schon auf
ihr Strahlen, auf das ordinäre Frohlocken in ihrer Stimme, daß sie sich
besser fühlen konnten und ihn hetzen durften, und sie sagten mit einem
falschen Glitzern in ihrem Auge, aber du mußt doch einen Vater haben,
jeder Mensch hat einen Vater, und er beharrte, nein, ich habe keinen Va-
ter, und er war stolz, daß er keinen Vater hatte, nicht einen stinkenden
Despoten am Tisch, nicht in ihren grausigen Schlafzimmern lebte mit den
muffigen Betten nebeneinander unter dem Himmelssegen, er war nicht
wie sie und hatte nie unter seiner Geburt, die sie einen Makel nannten,
gelitten. Nur später, als er in einem Buch, das ihn nichts anging, das er nur
aufgeschlagen hatte, weil es ihm unter die Hand gekommen war, las, daß
er, da keiner registrierten und eingesegneten Verbindung entsprossen,
nicht Priester werden konnte, nicht Kardinal und nicht Papst, da wurde er
traurig, obwohl er nicht katholisch getauft war, nicht konvertieren und
sich nicht weihen lassen wollte, er fühlte sich plötzlich, und wo er es gar
nicht vermutet hätte, verstoßen.
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Dieser eine Satz und nicht mehr.
Ich verirre mich. Der Satz mauert mich ein. Ich bewege mich im Kreis. Es
ist ein Gefängnis. Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Mit dem Kopf
durch die Wand, über die Mauer mit einem einzigen Satz, Ausbruch aus
dem Gefängnis, hinein in das Labyrinth. Das Labyrinth ist leer. Keine
Wände, kein Boden, kein Dach. Keine Fallstricke, keine Gruben, keine
Folter. Das ist das Geheimnis des Labyrinths. Kein Ausweg, wo alles
offen ist. Ariadne, wann ließ sie mich stehen? Das Knäuel blieb in mei-
ner Hand. Papier auf dem Tisch, Papier in der Schreibmaschine, Papier
auf dem Bett oder unter dem Bett, unsichtbares Papier, unwirklicher
Tisch, die Vision einer Maschine, die Buchstaben setzt, Wörter baut, sie zu
Sätzen fügt, ach, des Spiels überdrüssig, und dann das Bett, dieses Grab, so
gegenwärtig. Hell, daß es blendet. In Granit, nicht zu sehen, nicht zu füh-
len, erstarrte Zeit. Lehrer Dargel zeigte das Tier im Bernstein. Der Bern-
stein war gelb, aus Königsberg, gestocktes Licht, knisterte an Dargels
schwarzer Lüsterjacke. Aber das Tier? Welche Farbe hatte es? War es wie
Asche? Gestorben in einem elektrischen Feld. Plötzlich? In Angst, lange
bevor Kant auf das Meer sah? Mein Gehäuse ist stumpf. Es ist ohne Eigen-
schaft. Fossile stammen aus einer Epoche. Ein Professor sagt es. Der Brock-
haus. Das alte Unglück der Fossile. Wir freuen uns, den Bernstein gefun
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