MID836-12144-012

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment 22 23 40 46 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
eingefangen war, ich erschrak, sie war verhungert, aus ihrem Gesicht und
aus Hals und Brust und Leib hatte der Hunger gefressen, sie erschrak wie -‘
ich, und ich war es, vor dem sie zu erschrecken schien, mein Anblick, ich
merkte es, sie erstarrte vor der Front der Betten, sie blickte weg von mir,
schaute auf die Betten, in die ich mich plötzlich werfen wollte, von
Schwäche und Wut übermannt, von der Schwäche und Wut der Krankheit,
der Schwäche und Wut eines entsetzlichen verlorenen Jahres, der
Schwäche und Wut des verlorenen und gewonnenen Krieges, ich verhed-
derte mich in dem langen blauweißgestreiften preußischen Krankenhemd.
Der Kaiser war geflohen, Scheidemann hatte die Republik ausgerufen,
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren ermordet worden, Deutsch-
land veränderte sich, die Welt, in der ich lebte. Waren Jahre vergangen?
Heute scheint mir alles an einem einzigen Tag geschehen zu sein. An dem
Tag, an dem ich jung war. Nur wußte ich es damals nicht.
Er verkaufte Seide und andere Kleiderstoffe in Brüggemanns Kaufhaus.
Er wohnte möbliert in einer Mansarde an der Langen Straße. Er empfand
Zuneigung für die Mutter des Knaben. Wahrscheinlich aber hatte er paido-
phile Neigungen, und es war der Knabe, der ihn anzog. Er geht mit ihm in
die Deutschen Lichtspiele, in die Abendvorstellung, sie sitzen in einer
Loge ganz hinten im dunklen Raum. Man sieht einen Film, in dem eine
Hand den Kaiser zeichnet wie er über seine Feinde triumphiert, man sieht
geschlagene Russen in Scharen auf Feldern und in Seen getrieben, wo sie
als Leichen schwissen, man sieht Hindenburg den Feldherrn sich über das
Feld erheben, ein guter Vater, ein Fels, aus Stein. Man sieht zum Schluß
ein Drama in dem gemordet wird, ein hinkender Teufel schleicht durch das
Haus, dringt in die Kammer der Schlafenden, würgt sie oder saugt ihnen
das Blut aus der Kehle. Der Knabe träumt es. Er schreit in der Nacht, spürt
den Biß des Vampirs, den Griff des Würgers. Der Würger greift aber nach
dem sanften Verkäufer der Seide. Er bekommt am nächsten Morgen seine
Einberufug, zieht ins Feld. Er schickt einen Gruß aus Frankreich, steht in
einer Grabenstellung, beugt sich über den Grabenrand. Bald ist er tot.
Das fahrbare Feldbordell. Sieht er es nur oder wird er durch Kameraden
veranlaßt hineinzugehen? Dieser Besuch könnte dazu führen, daß er sei-
nen Tod ahnt, wünscht, ihm zustimmt. Es zerfällt für ihn die Welt der Da-
men die Seide kaufen, die Verehrung der Mutter. Die Mutterbindung des
Homosexuellen, der seine Veranlagung nicht erkannt hat oder nicht er-
kennen will.
Dieses Feldbordell könnte auch dem Theologen begegnen, eine Erfah-
rung der Erniedrigung, der Beharrlichkeit des Fleisches vor dem Tode.
Ich hörte die Schüsse, den Knall der Handgranaten, entfernt, über Höfe,
Dächer, Gärten, Echo hallte nach, senkte sich aus der Höhe, fiel in den Hof,
rauschte über mein Bett; sie kämpften am Markt, sie kämpften am Armen-
hof, sie verloren.
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