MID836-12144-011

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment 39 Notiz 43 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
verirrten Kugel getroffenen Zeitfreiwilligen und die Reichswehr ging hin-
terher mit dem Ehrengewehr und die Studenten gingen hinterher und
Magnifizenz reihte sich ein in seinem Ornat.
Der Vater: er ist ein Hochstapler und ist kein Hochstapler. Er stammt
aus kleinen ordentlichen Verhältnissen. Aus einem Schulhaus. Die Eltern
sparen, damit der Sohn studieren kann. Medizin als Brotstudium. Er spe-
zialisiert sich in der Augenheilkunde. Nicht aus Interesse, eher um etwas
Besonderes zu sein. Er tritt keiner Verbindung bei, weil er keinem Corps
beitreten könnte. Er ist nicht klug genug, um dies belanglos zu finden. Er
empfindet gesellschaftlichen Neid und Ehrgeiz. Er ist unsicher und über-
spielt es. Erst mit den Jahren als Junggeselle und Eigenbrötler findet er
seine Haltung zur Welt. Es bleibt aber Minderwertigkeitsgefühl in seiner
Haltung zu den Mächtigen. Kein Untertan, aber jemand der sich gern mit
der Macht liiert. Als Privatdozent mietet er in der kleinen Universitäts-
stadt die alte Wohnung des Landrats. Er tritt als reicher Mann auf, hält
Pferd und Wagen, steigt zur Verwunderung der Stadt mit einem Luftbal-
lon auf. Woher nimmt er die Mittel? Er erstrebt das Ansehen eines Wis-
senschaftlers und die Stellung eines Lebemanns. Seine Begabung für sein
Fach ist nicht glänzend; doch würde er mit einem soliden Vermögen auf
der akademischen Laufbahn vorankommen. Sein Ausweg wäre eine reiche
Heirat. Man erwartet sie von ihm. Die Aussichten wären nicht ungünstig.
Es fehlt ihm aber auch hier an Beharrlichkeit.
Tante Martha: er ist eine stadtbekannte Persönlichkeit, man hat sich an
ihn gewöhnt, er wird toleriert, er ist Amtsgerichtsrat, leitet das Vormund-
schaftsgericht. Die Studenten haben ihn Tante Martha genannt, und die
Stadt hat den Namen übernommen. Er ist groß und hager, hat eine sehr
große vorspringende Nase. Er versucht, sich klein zu machen, geht immer
gebückt wie um sich zu verneigen, sich zu entschuldigen, zu demütigen.
Ein Lächeln aus echter Liebenswürdigkeit und furchtbarer Verlegenheit.
Viele Verwundungen, die zu keiner Vernarbung geführt haben. Er trip-
pelt mit schnellen Damenschritten über die Straße. Die rechte Hand als
höbe sie einen Rock. Zuhause trägt er Damenkleidung. Verschlossene Tür.
Eine strenge fromme Haushälterin, keine sexuelle Betätigung. Wäre in
der Stadt unmöglich. In Berlin hat er Angst, schleicht um die Lokale, traut
sich nicht hinein. Er steht ganz auf Seiten der geltenden Moral, findet
seine Träume abscheulich, gibt den Leuten recht, die ihn verspotten. Ein-
samkeit, in der allmählich Weisheit die Bitterkeit mildert. Seine Stellung
als Vormundschaftsrichter: der Knabe rebelliert gegen das Sittengesetz,
der Richter muß das Gesetz durchsetzen, ist aber gutmütig und irgendwie
angesprochen, er schwankt zwischen Freundlichkeit und Strenge, einer
Verführung ausgesetzt. Der Knabe wieder sieht Tante Martha als einen
Außenseiter der Gesellschaft, und das gefällt ihm. Da alle Tante Martha
verspotten, spottet er nicht. Den Richter verwirrt das.
Was wäre gewonnen, wenn man das Ich, den Erzähler wegließe und nur
die Welt, die er, der nicht in Erscheinung tritt, beobachtet, zeigen würde?
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