MID836-12144-010

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

Archivmappe
MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
50 Notiz Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
die berliner Girls, ihre dicken, kurzen Schenkel, ihre dünnen Schenkel,
rachitische Knollen an den Gelenken, englische Krankheit, Krieg und Hun-
gerjahre, aber die Haut weiß von durchschnittlich zwanzig, sie puderten
die Beine, die Arme, die Quaste wischte über den vorgewölbten Leib, ein
Tupfer Rouge auf die Brustspitze oder sie rieben sie, kreischten, kicherten,
berührten sich, sangen, komm mein Lieschen, Lieschen, Pagenköpfe, Käte-
krusepuppen, dauergewellt, schon brüchig das Haar, es blieb im Kamm,
wurde ausgezuzzelt, deckte den Boden, blieb an den nackten Sohlen hän-
gen, Wasser rauschte, die Spülung der Toilette, er fühlte es feucht in der
Hose, Härte löste sich, Schmerz stach in den Schädel, der Blick eingetrübt,
es schrillte die Glocke im Hennenhof, Auftritt der tausend Beinchen, er lief
über den Flur zurück, durch die Feuertür, in den Theatertrakt, die Garde-
robe der Anfänger, der Kleindarsteller, auch Spiegel, Schweiß und Leich-
ners Fettschminke, Göbel stand in langen Unterhosen, er verachtete ihn,
langer Fuß, lange Zehen, der Schwanz spannte den Schlitz, du mußt dich
jeden Tag waschen, den ganzen Körper, es ist das mindeste was ein Mäd-
chen verlangen kann, Göbel sah es hygienisch, sein schwarzer Scheitel
glänzte pomadig, ein hübsches Lächeln, er hatte Erfolg bei den Damen, er
schlief sich durch, es war ihm egal, ob sie jung waren oder älter.
Plötzlich besessen von der Idee des Dialogs. Der Roman entwickelt sich
aus einem Gemurmel. Plätschern einer Quelle. Zwei Stimmen, nicht zwei
Personen. Erst allmählich wird deutlich, daß eine Geschichte erzählt wird,
die Geschichte dieser Stimmen, die aber wahrscheinlich nur von einer Per-
son ausgehen, die die Hauptperson des Romanes wäre, ohne daß sie als
Gestalt in Erscheinung tritt oder vorgestellt wird.
Beispiel: Das Ich könnte von seiner Mutter sprechen, Nähe und Gefahr
der Sentimentalität. Die Stimme dagegen spricht von einer Frau, distan-
ziert und objektiv, die Stimme kann untersuchen, urteilen, verwerfen,
grausam sein. Das Ich würde bei gleichem Verhalten zu einem zynischen
Charakter werden, während die Stimme der unbeteiligte Analytiker
bleibt, auch wenn es um die Mutter oder um ihn geht.
Wäre es möglich, nicht den inneren Monolog, sondern den inneren
Dialog zu geben? Die Unterhaltung zweier Teilwesen einer gespaltenen
Persönlichkeit, die weiter nicht vorgestellt wird. Die Teilwesen könnten
gelegentlich auch den Eindruck der Selbständigkeit machen. Sie hätten
große Freiheit des Wechsels vom Ich zum Er, leicht sogar zum Du. Man
könnte alle drei Formen verwenden.
Zurückdrängung der Direktheit. Die eigentliche Geschichte wie unter
einem Schleier. Dies vielleicht die natürliche Distanz der Zeit von den
Ereignissen der Jugend, und in der Distanz das Wirken des einzigen, des
immerdaseienden Feindes, des Todes. Im Grunde alle Versuche der Ret-
tung sinnlos. Spiel der Katze mit der Maus in einem Raum, der kein
Mäuseloch hat.
Im Roman die Gehemmtheit, die Unkenntnis, das Zarte, Weltfremdheit,
Angst und Torheit und die Belesenheit des damaligen Zustandes: Präsens.
10