MID836-12144-009

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Wolfgang Koeppen
dagegen riechen, als seien sie und ihre arme Seele in Essig gekocht und
würden vor jeder Stunde mit scharfem Mostrich abgerieben. Der Schulhof
wird von der alten Klostermauer am Wall begrenzt. Während der Pause
können die Kinder die Spaziergänger auf der Wallpromenade sehen, für
sie ein Bild der Freiheit, daß sie ihrer Gefangenschaft erst recht bewußt
macht. Die spaziergehenden Bürger deuten auf den Schulhof als auf das
Bild glücklicher, unbeschwerter Jugendtage. Es erschreckt sie nicht der
Gedanke, daß dort Bürger erzogen werden, die ihnen gleichen sollen, die
ihr trauriges, inhaltloses Leben ständiger Lüge und unerfüllter Wünsche,
bis auch die Wünsche sterben, fortsetzen werden.
Welch eine Funktion hat eine Souffleuse in der Stadt? Sie sitzt zu Füßen
der Schauspieler, durch eine Art Muschel den Blicken der Zuschauer ent-
zogen, eine Schnecke in ihrem Gehäuse, vielleicht eine Anbeterin der
Kunst, die sie aber zu sehr aus der Nähe betrachtet, um nicht bald dazu zu
kommen, das Schauspiel zu hassen, das sich aus einer Summe von Schwä-
chen, Niedrigkeiten, Einbildungen, selbst Lastern zusammensetzt. Außer-
dem, noch die gutmütigste Souffleuse wird den Helden, der vor ihr ins
Schwimmen geriet, seinen Text verliert, von verächtlichem Untergang
bedroht ist, zu ihr sich niederbeugt, hilfeflehend und doch wutverzerrten
Gesichts, entschlossen schon jetzt, in der Pause der Person da unten Be-
scheid zu sagen und ihr allein die Schuld an seinem Versagen und seiner
Lächerlichkeit zu geben, also selbst die gutmütigste Souffleuse wird sich in
Heldenfurcht und Heldenverachtung üben. Wahrlich, es ist ein Beruf,
mit dem Schicksal zu hadern. Warum wird nicht ihr das Stichwort ge-
geben, aufzutreten und zu glänzen? Sie spricht den ganzen Text des Stük-
kes, in den Staub der Füße, in der trockenen, die Kehle ausdörrenden Hitze
der Soufflierkastenlampe, während die Damen des Ensembles nur ihren
Part hersagen und zwischen ihren Auftritten die Gemütlichkeit des Klat-
sches auf den alten, roten Plüschsesseln des Konversationszimmers genie-
ßen. Als ob das Publikum etwas davon erführe, daß hier einer mißbraucht,
ja versklavt wird, tatsächlich im Staube liegt, wendet sich sein Mitleid
manchmal auch sein Ärger, wie über den Armen, der an das Gewissen des
Reichen rührt, der Souffleuse zu. Man sieht sie nicht, man ahnt sie, man
weiß vielmehr, daß sie da ist, gebeugt zusammengepreßt in ihrem Ge-
häuse, und zuweilen hört man sie. Ein Zischen! Die Unsicherheit des Schau-
spielers wäre nicht aufgefallen, nun hat das Zischen aus dem Soufflier-
kasten‚ das im Theater rundläuft, von den die Akustik fördernden Wän-
den getragen, mit spöttischem Klingeln im Kronleuchter festgehalten, den
Darsteller entblößt. Die Figur ist aufgeschlitzt, aus Faust oder Mephisto
ragt Herr Meier hervor, sein schwaches Fleisch, seine arme, verdammte
Seele. Da sie ein Sakrileg begeht, das aber zum Ritus gehört, könnte man
der Souffleuse sogar eine priesterliche Funktion im Kult dieses Tempels
zusprechen. Zuweilen bekommt sie Blumen geschickt, die mit einer Geste
der Herablassung bei offener Bühne in die Tiefe gereicht werden. Hilft
ein Schauspieler bei diesem Vorgang, ist es sein Wille, sich zu erhöhen.
Auch Körbe mit Lebensmittel kommen manchmal an und verschwinden in
der Muschel. Dies ist besonders an Stadttheatern mit einem Stammpubli
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