MID836-12144-006

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment Notiz Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Vom Tisch
Heute in der Erinnerung ein kritischer, aber auch sehnsüchtiger Kom-
mentar. Der hoffnungslose Versuch der Korrektur des versäumten Lebens.
Das kleine Mädchen im Stadttheater. Die Begegnung wie sie war, auf
der Treppe, vor dem Fundus. Die schüchternen, unterdrückten Erregun-
gen. Dann im Buch die Erfüllung der Wünsche: ich ging mit ihr in den
Fundus, griff sie, zerrte die Kostüme des Troubadour von der Leine, ent-
deckte Emmanuel, der uns belauschte.
Versuch einer Aufhebung der Zeit zu einer Gleichzeitigkeit allen Ge-
schehens. Jeder Vorgang gegenwärtig, jetzt und hier, in diesem Augen-
blick. Kein Vorher und kein Nachher. Weder Vergangenheit noch Zukunft.
Oder anders: die Zukunft von morgen war schon gestern und vorgestern
und von Anbeginn. Er tut nicht mehr dies und dann das; er tat alles und
nichts. Doch die Zeit wird dadurch nicht weniger unheimlich, daß man sie
ignoriert. Oder sich das vornimmt. Es ist eine Anstrengung. Es geht nicht.
Ich sitze hier, erwachsen, und laufe zum Bahnhof, ein Kind. Bismarck steht
vor mir, jetzt, hier, spricht oder schweigt.
Das radikale konsequente Heut der Vergangenheit ist schwierig und
tückisch. Die Person verliert ihre Perspektive, gewinnt an Nähe, vielleicht
an Fläche. Der Roman ist hoffnungslos und deprimiert. Die Vergangenheit
nimmt die Zukunft mit. Alles ist eins und gleich. Dies mit den jeder Rück-
sicht baren Augen eines Individuums gesehen, eines Untiers in der Wabe.
Die Bewegungen sind gelähmt, dennoch geschieht etwas, dauernd, aber
ohne daß man eine Aktivität wahrnehmen könnte. Der konservative Ro-
man eine Sinngebung des Sinnlosen, die Versuche konstatieren die Sinn-
losigkeit des Seins. Eine Form, die, wie jede, einen großen Inhalt verlangt.
Die Bürgerschule, wilhelminischer Bau auf dem Gelände des grauen
Klosters. Der noch erhaltene Teil des Klosters, wirklich grau, von einer
grauen Trostlosigkeit, ist ein Spital für arme, hilflose Alte. Wer hierher
gekommen ist, gilt als Bettler. Aus dem Eingang des Hauses riecht es
sauer, der Dunst von Volksküchensuppen mischt sich hier mit dem des
Grabes. Am Mittag oder an Sommerabenden sitzen die Alten vor der Tür,
schwarz gekleidet, was die lutherische Wohltätigkeit von ihnen erwartet,
und sehr leichenhaften Gesichtes. Strähnige, weiße Haare oder das Fehlen
von Haaren auf den bleichen, von bräunlichen Altersflecken bedeckten
Schädeln verstärken noch den Eindruck abgestorbenen geraubten Lebens. Über dem
Platz mit einigen alten, wahrscheinlich auch schon toten Kastanienbäumen
ziehen die scharfen Schwaden aus der Essig-Sauerkraut- und Mostrich
Fabrik. Die Schule, die Bürgerschule, eine Fortsetzung der grauen Kloster-
schule, die aber eine Lateinschule war, während die Bürgerschule sich den
Nützlichkeiten verschrieben hat und eben Bürger, gute Rechner und erge-
bene Untertanen erziehen will, die Schule hat das graue Kloster nicht ver-
jüngt, vielmehr das Kloster sie, ihre Lehrer und ihre Schüler vom grauen
Greisentum angefressen. In ihren hohen und neuen Gängen lastet der
saure Geruch der Altleutekammer, dem sich in den Klassenzimmern der
Knabenschweiß aus Angst und Heuchelei und Feigheit gesellt. Die Lehrer
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