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Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Fragment 34 6 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Vom Tisch
selbst als das Unkraut der Welt sie durchrankte und sie mit ihm gejätet
wurde. Ich fragte bald, Unkraut, was ist das? Wer erfand den Namen, wer
gab ihn wem? Wer nahm sich das Recht? Wer Unkraut sagt, nimmt auch
den Schindanger hin, auf den er zu liegen kommt. Ich fand die Sumpfdot-
terblume schön vor allen Blumen und ergötzte mich früh schon an ihrem
prächtigen lateinischen Namen: Caltha palustris.
Dies alles weiß ich nicht. Ich glaube, mich zu erinnern. Aber wer ist das,
der sich erinnert? Der Unbekannte in diesem Zimmer, an diesem Tisch, vor
Briefen, die an einen anderen gerichtet sind, der einmal gewesen ist? Viel-
leicht erinnert sich einer an mich. Oder ich erinnere mich für einen. Du bist
es, den Erinnerung überfällt. Du erduldest Erinnerung. Vielleicht sind die
Bilder wahr. Doch Lügen wären nicht weniger wahr. Ein intensives Stu-
dium hat mich dazu gebracht, nicht zu wissen, wer ich bin. Ich weiß auch
nicht, wer er ist. Ich beobachte ihn, und wahrscheinlich beobachtet er mich.
Ich sah ihn, wie er in dem Warenhaus vor dem Spiegel erschrak, vor die-
sem abscheulichen Wesen in dem häßlichen Anzug, den er nicht kaufen
wollte. Und ich war auf der anderen Seite des Spiegels, wie er in einem
Kleid, das ich nie haben wollte. Ich handele, du handelst, er handelt. Ich
handele nie. Er, sie es handeln mit mir. Ich habe die große Wohnung ge-
mietet. Die Wohnung ist leer. Ich habe keine Möbel. Mein Mörder läuft
vor mir oder hinter mir her von Zimmer zu Zimmer, es sind sechs oder
acht, mit der Küche und den zwei Bädern; mein Mörder und ich, wir sehen
uns nie, die Wohnung ist zu groß. Ich gehe und wasche meine Hände. Er
geht in das andere Badezimmer. Ich habe scharfe Ohren und höre, wie das
Wasser fließt. Hat er weiße Hände, rote, kurze, lange, Metzgerhände,
Arzthände, lüstern nach dem Skalpell, die Laugenhände der Hebamme, die
mich in die Welt hob, widerwillig? In der Schule die Geschichte von Pila-
tus. Der Lehrer erzählt sie gern. Er mag diesen Pilatus. Immer ereignet
sich was. Ohne unser Zutun. Zum Glück nehme ich es nicht ernst. Die
Scherzhaften. Hölderlin. Er weinte. Auch Bismarck weinte. Lag auf dem
Sofa im Vorzimmer, in Tränen aufgelöst, Schluchzen erschütterte den
mächtigen Leib. Er ertrotzte Verträge. Nahm er sein Denkmal ernst? Es ist
alles meine Schuld.
Was geschah am Tag der Mobilmachung? Der Leutnant kam mit seinen
Leuten auf den Marktplatz, die Soldaten stießen den Stand beiseite, den
Korb der alten Frau, die mir die Äpfel schenkte, es war vor dem Rathaus,
der Scheune der Schildbürger, der Bürgermeister trat aus dem Haus, auf
festen Stumpen, die goldene Kette um, die er für Eisen geben sollte,
der Apotheker vor der Apotheke, ein wohlgenährter Bauch, eine weiße
Weste, aus der Post traten die Postbeamten, in ihrer blauen Uniform gli-
chen sie den Soldaten, sie sahen wie die strammen Väter der strammen
Infanteristen aus, die Fischfrauen hielten den Mund, die Waldbeeren-
frauen weinten, die alten Häuser am Markt witterten Blut, erfahrene Gie-
bel, gutes Sterben, Herr Störtebecker, hochzuverehrender Herr von Wal-
lenstein, Durchlaucht, unsere liebe Majestät, Herr Gustav Adolf, feste
Burg, in Rutenbergs Weinstube ging es hoch, den Franzosen den Hals ge
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