MID009-016I

Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

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MID009
Absolute Datierung
-
Zuordnung
37 Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968) 53
Kopie
nein
Durchschlag
nein
258 Wolfgang Koeppen
treten, Heiligenscheine aus den Soffitten. Wirbel des Finale, die Liebe die
Liebe ist eine Himmelsmacht

Ich schrieb, sie fürchtete die Schlangen. Sie sah sie im brackigen Grund, wenn
wir am Meer entlang zum alten Gut gingen. Gras krankte in salziger Lauge.
Das Rad der Saline stand still. Aus der Abdeckerei faulte Verwesung. Ich haßte
die Stadt hinter den Wiesen, die berühmte Silhouette, die der Maler gemalt
hatte. Ich sah sie von Ottern gefressen. Aber wird man mich verstehen? Ich darf
nicht zugeben, daß es gleichgültig wäre, ob mich keiner versteht oder einer,
der natürlich wichtig würde und meine Bemühung nicht ganz vergeblich sein
ließe, wenn ich auch selber nicht weiß, ob ich etwas verstanden habe oder über-
haupt etwas zu verstehen war. Es ereignete sich etwas, und es ereignet sich ja
immer etwas und unendlich viel, es war einmal und wird sein, das ist unüber-
sehbar, aber dies betraf mich, nicht andere, obwohl was andere zerschmettert
auch mich vernichtet, oder ich beobachtete etwas, es ging vor, ich habe es er-
lebt, ich war Zeuge, es war ein Augenblick, eine Sekunde, ich könnte anneh-
men, möchte hoffen, es war ein bestimmter wenn auch winziger Punkt in der
Zeit, ein immerhin zu lokalisierendes Ereignis im All, und schon weggewischt
und wäre nie gewesen, ruhte es nicht gespeichert in mir, in dem Gedächtnis
irgendeiner Zelle, die ermüden, krank, ausgemerzt, veröden, sterben kann, doch
solange ich bin und denke, die furchtbaren Gefahren überstehe, nicht den Ver-
stand verliere, sind Aufzeichnungen da, Daten, wie sie es nennen, die hervor-
gezogen, herbeigerufen werden können wie auf den jetzt modernen und un-
heimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne heißt, da liegt die Erinne-
rung in einem unordentlichen verwirrenden Netz, griffbereit, nur wehe, wenn
ich den Schlüssel verloren habe, die Fähigkeit, den Mechanismus zu bedienen,
wenn ich die Taste nicht mehr finde, die Vergangenheit herbeiruft, sie zur
Gegenwart und gar zur Zukunft in unentrinnbare Beziehung setzt, vielleicht
konnte ich nie mit dem umgehen, mit dem mich die Schöpfung ausstattete, und
nur noch zufällig löst irgendeine ungewollte Erregung ein Bild aus dem Vorrat
bewahrter doch vergessener gleichgültiger Eindrücke und macht es bedeutsam,
wiederholt den längst vergangenen Augenblick, schafft ihn neu oder täuscht
mich darin. Es ist, als betrachte ich eine alte Fotografie. Ich habe sie aufgenom-
men; vielleicht bin ich auch aufgenommen worden. Es ist Mittag. Ein hoher
lichtloser Himmel im Januar. Meine oder ihre Augen von der unsichtbaren
Sonne gequält. Ich marterte sie oder mich. Oder was wollte ich? Ein Gesicht
einwecken wie Obst für den Winter, Fleisch für karge Jahre, und am Ende, in
den jüngsten Tagen, der penetrante Geschmack der eisernen Ration und doch
die Erdbeeren von einst, der Geruch des Gartens, das Beet an einem Sommer-
morgen nach dem Gewitterregen der Nacht, dieser Urwald kleiner Pflanzen,
grüne überlappende Blätter der Stauden die rauhgraue Gewölbe bildeten, in