MID009-015

Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

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MID009
Absolute Datierung
-
Zuordnung
37 Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Anamnese 255
schen, der fallen wird, gemeuchelt unterm Schnee, verscharrt im Wüstensand,
begraben im Eis der Fjorde, versenkt in die Tiefe des Ozeans. Der alte Fürst
liebt eine Mätresse und zeugt einen Schriftsteller oder einen Minister oder
einen Volksverderber oder einen Hotelbesitzer, aber manche der Einheimi-
schen sagen auch, ons Först is dood. Der Park ist nach englischer Weise angelegt,
der Fürst oder die Fürstin oder ihre Ahnen oder der Architekt, den sie bezahl-
ten oder nicht bezahlten, oder irgendwer, der ihr Ohr erreichte, ein Einflüsterer,
ein Schmeichler, ein Bodenspekulant, vielleicht ein echter Engländer, der homo-
sexuell und emigriert war und seine Erinnerung an den Hydepark bekämpfte
oder pflegte, vielleicht an einem Knaben mit einem Mädchenteint, oder ein
Milchmädchen milchigen Teints knäbischen Gesichts auf den regennassen kurzgeschorenen Rasen
geworfen und vergessen oder nicht vergessen sie alle liebten und über alles
die Natur. In den weiten Lichtungen sollten Rehe weiden. Rehe weideten auch
dort, kamen zutraulich heran, ließen sich füttern mit verschimmeltem Brot aus
der Hand ihrer Feinde, die Rehe schnupperten, prusteten mit feuchten Lippen
über die hingehaltene selbstzufriedene Hand, doch man sieht keine Rehe mehr,
die Rehe sind verschwunden, geraubt, geplündert, mit dem Armeegewehr
erschossen, von Handgranaten erledigt, bei Nacht geschlachtet, vielleicht hat
der Fürst sie gefressen, während die Standarte seiner Hoheit und seiner An-
wesenheit auf dem Dach seines Schlosses wehte, vielleicht aßen auch andere die
Rehe, taten sich am Rehfleisch gütlich, während der Fürst vor gedeckter Tafel,
vor leeren goldenen Tellern im Prunksaal ohne Feuer und ohne Licht saß und
auf die Schüsse lauschte, auf die Explosionen der Handgranaten vor seinem
Haus, in seinem Park, bei seinen Rehen, die er liebte und nicht schlachten
wollte, und vielleicht geschah dies alles während der Fürst starb. Die Wege des
Parkes sind sorgsam mit Sand bestreut, der von der Ostsee angespült, von Tage-
löhnern hergekarrt wurde und hier sehr ordentlich aussieht. Der Sand ist weiß,
feinkörnig, meergewaschen, manchmal knirscht eine zertretene Muschel, und
immer ist ein alter Mann beschäftigt, der dem Fürsten ähnlich sieht und viel-
leicht sein Bruder ist, die Pfade zu harken. Wenigstens in der Saison. Meine
Mutter sitzt im Park auf einer Bank, die der Schloßverwaltung oder dem Kur-
verein gehört. Meine Mutter schreibt. Sie schreibt keine Ansichtspostkarte, sie
transportiert nicht das Schloß des Fürsten von Putbus nach Hause oder in die
weite Welt. Keine Grüße aus der Sommerfrische. Auf ihren Knien ruht ein ab-
gegriffener Band, eine Sammlung von Fingerabdrücken, von Erinnerungen an
fremde, unachtsam verschlungene Mahlzeiten, Brandflecken mißmutig verpaff-
ter Zigaretten, der Klavierauszug einer lustigen Operette, und auf dem schäbi-
gen alten Klavierauszug liegt ein Bogen gelblichen Kanzleipapiers, den meine
Mutter irgendwo gefunden oder mitgenommen hat, und sie schreibt mir: ver-
hungere, wenn du verhungern willst, wenn es deine Bosheit ist, mir dies an-
zutun, ich kann dir nicht helfen, wenn du dir nicht hilfst, und sie entschließt
sich zu schreiben, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, und es ist der Gott Luthers