MID009-013I

Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

Archivmappe
MID009
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968) 1
Kopie
nein
Durchschlag
nein
252 Wolfgang Koeppen
WOLFGANG KOEPPEN
Anamnese
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. An warmen Sommertagen gingen wir
durch das Rosental, die bei Sturmfluten vom Meer überspülte Flur auf bracki-
gem Grund, das Gut zu sehen, Ephraimshagen mit seiner abweisenden gekalk-
ten Mauer, der junkerlichen Auffahrtsallee, dem Säulenportal von dorisch-preu-
ßischer Strenge, der bröckelnden traurigen Sandsteinheiterkeit der hier wie
im Stundenglas des Sensenmannes sichtbar verrieselnden Zeit, der stolzen
albernen Herrschsucht des Herrenhauses, dem ungestürzten Gesindekönigtum,
der alten Reserverittmeisterherrlichkeit zwischen den Ställen, der schwarzweiß
gestrichenen Fahnenstange und ihren auf Halbmast gesetzten alldeutschen
Träumen, ein Hahn krähte auf dem Mist, aus prallen Eutern säuerte Milch,
Zeugung drängte zur Schlachtung, Spiritus fuselte aus den Bottichen der Bren-
nerei, leer gähnten die geöffneten Fenster im Mittagslicht, weiß blühten ge-
steifte Stores, es glänzten die fuchsrot polierten Möbel pommerschen Empires,
die schweren blanken Schränke mit Säulen und goldenen Beschlägen, die Kom-
moden mit Lorbeer und Girlanden, die Bettstellen mit gedrechselten Schwanen-
hälsen, es schliefen die gebrochenen Brokate der Sessel im Salon, die speckigen
Lederstühle der Bibliothek mit der Rangliste der Königlich Preußischen Armee,