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Wolfgang Koeppen: „Als ich Gammler war“, in: der literat. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Ausgabe 8 August 1970, 148-150.

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MID002
Absolute Datierung
-
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52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
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nein
Durchschlag
nein
[ In meiner Stadt war ich allein ]
Wolfgang Koeppen
Als ich Gammler war
In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich
war mir meiner Jugend nicht bewußt. Ich spielte sie
nicht aus. Sie hatte keinen Wert. Es fragte auch nie-
mand danach. Die Zeit stand still. Es war eher ein
Leiden. Doch gab es in der Stadt keinen, der mir glich.
Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs. Ich war
auf den Straßen und Plätzen. Ich fiel überall auf. Ich
hatte kein Ziel. Ich stellte mich mitten auf den Markt.
Ich war unnütz; das gefiel mir. Ich genoß es, auf dem
Markt zu stehen. Einfach nur so. Ich hatte nichts anzu-
bieten. Nicht einmal mich selbst. Ich kaufte nichts. Ich
wollte nicht teilhaben. Ich verachtete sie. Ich kannte die
Kurse nicht. Ich fragte nicht nach dem Preis.
Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte mir einen
Buckel. Ich wollte ausgestoßen sein. Sie sollten es
sehen. Sie sahen es. Ich hörte sie und hörte sie nicht.
Sie riefen hinter mir her. Sie höhnten, geh, hol dir
den Krankenschein zum Haarschneiden. Ich war in
keiner Krankenkasse; ich war stolz, in keiner Kasse
zu sein. Es berührte mich nicht. Sie schrien, Bubikopf‚
Bubikopf, Das Schulterlange Haar stand mir für eine
bessere Welt. Ich zog meine Schuhe aus, knüpfte sie
zusammen, hängte sie über die Schulter, ging barfuß
weiter.
So fühlte ich die Stadt. Sie war unter meinem Fuß.
Sie war hart und kalt. Die anderen merkten es nicht.
Viele liebten Stiefel. Sie marschierten gern. Sie hatten
den Krieg verloren. Sie würgten an der Niederlage und
haßten die Republik. Sie sagten, wenn wir die Wehr-
pflicht hätten. Sie riefen, die Hammelbeine langziehen.
Sie kniffen die Augen zusammen. Sie hofften, mich zu
zerschneiden. Sie hatten alle nur ein Gesicht.
Ich war nicht traurig. Ich amüsierte mich. Ich war
der Ritter von der traurigen Gestalt. Das war lustig.
Ich sehnte mich nach Freunden. Ich wollte es bunt.
Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammen-
kniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne
Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen
hatten. Ich versagte mir das Lachen. Ich dachte an
die Leichenfelder, an die Siege, die wir gefeiert hatten.
Ich gab mich düster. Ich schlug den Krimmerkragen
meines Mantels hoch. Der Mantel war lang wie ein
Kaftan. Ich hatte lange nach ihm suchen müssen. Ich
zog einen Russenkittel an, schloß ihn um den Hals. Ich
preßte mir den breiten jenseitigen Hut eines Land-
pfarrers tief über die Augen. Wenn ich einen Hut auf-
setzte.
Ein Kind auf dunkler Treppe; es nahm meine Hand
flüsterte Hochwürden. Ich war Raskolnikow. Ich war
einer aus den Dämonen. Der aus dem Kellerloch. Der
aus dem Totenhaus. Ich hatte unterm Galgen gestan-
den. Der Bote war noch einmal gekommen. Begnadigt.
Die Schlinge hing locker.
Ich zündete die Stadt an. Erdmanns Warenhaus
brannte. Eine Fackel in der Nacht. Das Rathaus
brannte. Meine Geburtsurkunde verbrannte mit. Das
war gut. In Flammen stand das Gericht. Ich öffnete
das Gefängnis. Ich verteilte die Waren der Geschäfte
an die Armen und die befreiten Gefangenen. Aus
Buggenhagens Buchhandlung bekam jeder ein Buch.
Das Geld der Sparkasse auf die Straße. Kinder spielten
mit den Scheinen, formten Schiffchen, setzten sie in
die Gosse.
Vielleicht liebte ich die Stadt. Ich stülpte sie um.
Ich vernichtete ihre Ordnung. Ich störte die Feier.
Ein Russe sprach mich russisch an. Das salbte mich.
Ich eiferte Kropotkin nach. Der Russe war bekümmert.
Er war Emigrant. Er hatte Heimweh nach einem an-
deren Rußland.
Im Sommer ging ich unter einem Sonnenschirm. Der
Schirm war weiß wie der heiße Himmel. Der Schirm
hatte resedagrüne Volants. Ich wanderte in Tropen. Der
Schirm hatte eine silberne Krücke, zu einem Vogel ge-
schmiedet. Kam ein Wetter auf, flog der Vogel mit dem
Sturm. Ich war weiß gepudert; ich hatte mein Gesicht
mit Reismehl betupft.
Ich ruhte, wo ich im Weg war. Ich legte mich auf
die Straße, lang vor die Türen. Ich saß auf den Stufen
zu den Denkmalen toter Männer. Ich streckte mich ins
Gras der Verschönerungen, dem Schutz der Bürger
empfohlen.
Die Bibliotheken zogen mich an. Ich suchte sie heim,
gierig und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein
Liebhaber, unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren
wehrlos. Sie wurden mir hörig. Sie öffneten ihre
Schränke, trennten sich von ihren Schätzen. Ich brei-
tete Schrift um mich aus. Ich verschlang, was gedruckt
war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß ich wie
trunken. Das Alphabet trug mich fort.
Ich versuchte die Stadt. Ich war ein Ärgernis. Ich
wollte ein Ärgernis sein. Die Ordnung beobachtete
mich. Die Bürger mikroskopierten mich in ihren Fen-
sterspiegeln. Sie sahen ein Ungeheuer. Die Ordnung
fühlte sich herausgefordert und verletzte das Gesetz.
Alle Ertüchiger bliesen zur Jagd. Sie pirschten sich ran.
Sie umstellten mich. Sie bauten Fallen, in die ich nicht
fiel. Ich tat nichts. Ich tat keinem etwas. Das war ver-
dächtig. Das war böse.
Ich wollte ich sein, für mich allein. Da drängten sie
sich auf. Die Stadt entblößte sich vor mir. Sie war
nicht ehrbar. Sie hatte einen Untergrund. Die Polizei
schlug. Die Richter waren parteiisch. Der Amtmann
mißbrauchte sein Amt. Der Pfarrer glaubte nicht. Der
Ertüchtiger war ein Sadist. Die Trinker kamen und
entkorkten die Flaschen. Die Geilen machten ihre
Offerte. Morphinisten und Kokser zeigten ihre Wunden
und zeigten den Schnee. Dirnen gaben sich zu erken-
nen. Diebe luden ein. Der Anthroposoph stieg mit mir
auf dem Turm von Sankt Nikolai und schrie, Sie sind
der Teufel. Als er mich würgte, sah ich die See. Sie
schwankte grau unter einem grauen Himmel.
Lenz kam von den Kommunisten. Das verirrte
Schaf war in die Herde zu führten. Lenz wollte der
Herde entfliehen. Er war zerrissen. Er lief durch den
Winter mit kurzen Hosen und nackten Knien. Das ver-
band mich mit ihm. wir badeten noch im November im
Meer. Unsere Fahrräder lehnten beieinander und zit-
terten. An seinem Rad hing der rote Wimpel mit dem
Emblem von Hammer und Sichel. Die Völker hörten
die Signale. die Völker hörten nichts. Die Sirenen
schwiegen. Damals schwiegen sie noch. An meine Lenk-
stange hatte ich, um Lenz zu ehren, einen schwarzen
Lappen gebunden, die stolze schwarze Fahne der
Anarchie. Lenz wurde erschlagen. Das taten die mit
dem verkniffenen Gesicht. Es gab da irgendwo ein
Hünengrab; dort töteten sie ihn und verscharrten
ihn gleich.
Ich wünschte ein Schauspiel. Ich reiste vierter Klasse.
Ich pochte auf die moralische Anstalt. Ich hatte zu viel
gelesen. Die Stadt rutschte hinter den Schienen weg.
In Nebel, in graue Wolken, in Schnee, in die verlorene
Zeit. Sankt Nikolai drohte zuletzt wie eine erhobene
Faust. Erst später spürte ich die Narben. Das Abteil
war für Reisende mit Traglasten. Ich hockte auf einer
Kiepe. Häcksel drang durch das Geflecht. Ein Huhn
gackerte. Ein Schwein grunzte im Sack. Der Mann, dem
das Schwein gehörte, sagte, was liest du da. Ich
sagte, Tairoff, das entfesselte Theater. Der Mann sagte,
du wirst dir die Augen verderben. Es schneite. Es war
kalt. Die Heizung war nicht an. Es war trübe. Der Mann
schenkte mir ein Ei.
Es schneite. Berlin lag im Schnee. Das Reich lag im
Schnee. Der Stettiner Bahnhof war eine Höhle aus
Wind und Ruß und den Geräuschen großer Bewegung.
Er war Babylon; ein Ort, um aufzubrechen. Mir
schmeckte die Luft. Ich schmeckte Freiheit. Sie standen
auf allen Straßen, sie standen gegen die Mauern ge-
lehnt, sie froren, sie hungerten, sie waren Arbeitslose,