MID355-M033-011

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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MID355-M033
Absolute Datierung
-
Zuordnung
36 Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)" 26
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Von Anbeginn verurteilt 839
hörte. Der General rief den Jahrgang zur Musterung. Wie kam er dazu? Was
fiel dem Kerl ein? Der General ist tot, nein, der General ist unsterblich, er
bezieht seine Pension, am Morgen siehst du ihn durch den Park gehen, eine
rüstige, eine ungebeugte Gestalt. Ich lebe, ich verdächtige dich, du bist mein
Jahrgang, ich werde dich mustern. Wie widerlich du mir bist, wenn du dich
nackt ausziehst und dich der Musterungskommission stellst, ihr deinen Hin-
tern hinhältst, daß sie dich prügelt. Bist du sonst so geduldig? Ich will unsere
Geschichte erzählen, meine Geschichte, deine Geschichte, sie geht dich nichts
an, ich erzähle sie nur mir, ich werde dich bloßstellen, du bist noch nicht nackt
genug! Es ist unangenehm, der Zeuge, es ist lästig, der Täter, es ist dumm,
der Leichnam zu sein, nach so viel Jahren. Du kannst dich nicht erinnern, du
hast dein Gedächtnis verloren, du hattest nie ein Gewissen, du weißt von nichts.
Am besten ist man der Ankläger. Seine Entrüstung kommt immer recht. Man
glaubt sie ihm nicht, aber das macht nichts. Das Gericht braucht ihn. Dabei
kennen ihn viele. Sie sahen ihn mit dem Spaten unter den Bäumen. Er ist der
Schlimmste. Er reichte mir den Spaten, er rief: schlag zu. Jetzt klagt er dich
an. Er meint es ernst. Er ist ein ernster Mann. Ich scherze und bin ihm unter-
legen. Er fordert meinen Kopf. Er fordert immer einen Kopf, das ist seine ernste
Art. Ich werde mich nicht verteidigen. Ich werde dich in den Zeugenstand
rufen. Deine Aussage wird uns nicht retten. Wir sind von Anbeginn verurteilt.
II
Das Steinbeckertor ist für welchen Triumph gebaut? Der weltberühmte Ur-
heber: hier stock ich schon. Wie denn? Wo denn? Wer denn? Kein Hund in
Teheran, kein Löwe im Wald, nicht einmal der gedemütigte Gefangene hinter
Gittern in der schmutzigen Menagerie auf unserem Jahrmarkt, kein schwarzer
Mann, kein gelber Bruder, nicht wer weiß wer in der neuen Welt nennt seinen
Namen, und zu schweigen von den weißen Flecken, den buntgekleideten und
den nackten Menschen, den Ungeheuern der Meere, der Länder und der Lüfte
auf Mercators oder Vissers Atlanten. Unnötig, fern zu schweifen. Wer nennt
ihn hier, den weltberühmten Weisen? Nicht König, Ritter, Bauer, Bettelmann,
vielleicht der Schneider seiner Anzüge, der Schuster seiner Schuhe, Bäcker
seines täglichen Brots. Wohlfeil die Laudatio, kleine gängige Münze in der
Gelehrtenrepublik. Anrüchiger Verein. Natürlich konnten sie stolz sein auf ihre
feine Märtyrertafel: erschlagen, gesteinigt, gekreuzigt, verbrannt, mit Feuer
und Schwert ausgerottet, in Verließe gesperrt, den Giftbecher gereicht, außer
Landes gejagt. Für nichts, für Hirngespinste, eitle Mittagsträume, Fortschritt,
Freiheit, Erkenntnis, Wahrheit, oder was sie dafür hielten. Er ist aber nicht
eingebildet, er läßt sichs gern entgehen. Wes Brot ich esse, des Lied ich singe,
untertan jedweder Obrigkeit, dem Himmel was des Himmels nach Anweisung
des jeweils zuständigen Pontifex, des Landesherren Höchstdero Unterwertester.
Also der weltberühmte Verfasser einer erbaulichen Chronik. Was meint er nur?