MID355-M033-010

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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MID355-M033
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)" 26
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Von Anbeginn verurteilt 837
Tag, wir hatten auch eine Küche, die Küche war neben der Kammer, und ich
lief durch die Kammer und lief barfuß über den Ziegelboden der Küche, ich
spürte unter meinen nackten Sohlen den Ziegelstein, kalt, ausgehöhlt und sanft,
der kalte Stein schmeichelte meinen Füßen, er war wie die Mädchen, glatt,
sanft, auch üppig und kalt, ich hörte, während ich über den Küchenstein lief,
wie die Mäuse über den gemauerten zerfallenden feuerlosen Herd huschten
und sich im Reisig versteckten, das ich im Wald gesammelt hatte, oder sich in
nichts versteckten, einfach im kalten Feuerloch, weil ich kein Holz gesammelt
hatte, und ich dachte, während ich durch die Küche lief, warum fürchten sie
sich vor mir, der ich mit den Mäusen reden möchte, und warum bleiben sie bei
uns, sie finden nichts, und ich öffnete die Tür, die aus der Küche direkt in den
Hof führte, und ich lauschte in den Hof und lauschte der Nacht, die Nacht war
still, die Stadt war still, eine stille Stadt, ein stiller Erdkreis, wir wohnten im
Hof, wir wohnten in einem Schuppen, im Vorderhaus brannte ein einsames,
ein ungefährliches Licht hinter dem Fenster des alten Pantoffelmachers, er zog
noch in der Nacht den bindenden Faden durch den harten Filz, er war ein
Heimarbeiter und ein Greis, und was er am Tag oder in der Nacht vollbrachte,
wurde ihm schlecht gelohnt, und er hatte die Bibel aufgeschlagen bei seiner
Arbeit, weil er alt war und den Tod fürchtete, doch mir jubelten Engel, es
war Januar, die Luft war winterstarr wie sprödes Glas, das zerspringen wollte,
ich lief nackt in den knirschenden Schnee, über die splitternden Eisschollen der
Pfützen, ich hing mich nackt an die krumme Teppichstange vor der Küchentür,
ich zog mich hoch, einmal, zweimal, dreimal, ich erschöpfte mich in Dutzenden
von Klimmzügen, ich hörte vom Nebenhof den Hund des Schlächters, der
weinte, weil er sich fürchtete wie der Pantoffelmacher sich fürchtete, und der
Hund weinte leise, unterdrückt, weil er noch mehr als den Tod seinen Herrn
fürchtete, den Meister Hergesell, der ohne sein rechtes Bein und was man sonst
noch munkelte von Verdun zurückgekommen war und nun sein Bein und was
man sonst noch munkelte von seiner Frau oder von seinem Hund forderte, die
er prügelte, und von allen Tieren, die er schlachtete, und es durchfuhr mich
ein Strahl vom Himmel, ein Feuerbrand von den Sternen ging durch mich
durch, traf die gefrorene verschneite Erde: auf den Höhen, am ernsten Felsen-
hange, wo so gerne mir die Träne rann, säuselte die frohe Knabenwange schon
dein zauberischer Odem an. Oder nicht im Bett und nicht im Hof. Ich führte
eine alte Frau durch die Stadt, sie hing schwach und schwer an meinem Arm,
es hatte Mitternacht geschlagen, drei Türme wachten über uns, Sankt Nikolai,
Sankt Jakob, Sankt Marien, ihre Uhren hatten den letzten Schlag getan und
den Tag in jenes Nichtmehr gestoßen, über die Grenze, die wir gerade noch
zu erkennen glauben, unfaßbar nun unseren Sinnen und trostlos die Stunde
nicht genutzt, den Tag nicht gelebt, die Prüfung nicht bestanden, ins Dunkel
gesunken, unwiederbringlich und ewig verloren. Die Straßen waren leer, die
Plätze waren leer, die Häuser waren Särge, nebeneinander gereiht. Der Schritt