MID355-M033-005

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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MID355-M033
Absolute Datierung
-
Zuordnung
51 Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Von Anbeginn verurteilt 843
alle Theater hätte in die Luft sprengen mögen. Später erfuhr ich allerdings,
daß meine Mutter während dieser Zeit Briefe geschrieben hatte, in denen sie
sich bitter beklagte, daß ich einen schönen Winter verbringe und am Abend
ins Theater ginge. War dieser Winter schön? Er war kalt und mich hungerte.
Im Theater hatte ich Anspruch auf eine Freikarte, ich hatte diesen Anspruch
durchgesetzt und er war eine Art Gewohnheitsrecht geworden, das ich immer
wieder verteidigte, wenn es mich auch wunderte, daß es überhaupt anerkannt
wurde. Ich betrat das Theater durch den Porticus aus Sandsteinsäulen, die auf
die klassische Herkunft aller Bildung hinweisen und vielleicht auch gelegent-
lich an die Geburt der Tragödie erinnern sollten. Die Säulen waren von Kugel-
einschlägen aus den Kämpfen zwischen den Zeitfreiwilligen des Kapp-Putsches
und den streikenden Arbeitern durchlöchert und zerschrammt. Diese Beschä-
digungen waren noch offene Wunden. Verteidiger und Feinde der Republik
waren an dieser Stelle gefallen, doch die Zuschauer des Theaters waren in
ihrer Mehrheit geneigt, nur den Tod der jungen Leute, die die Republik und
ihre verhaßte Fahne abschaffen wollten, heldisch und tragisch zu nennen. Die
anderen waren vergessen wie ein unangenehmes, ein höchst peinliches Er-
eignis, und ihre Angehörigen gingen nicht in das Theater, es sei denn, daß
Lenz in das Theater ging, der auf der Seite stand, die gesiegt und verloren
hatte. In Wandervogeltracht blickte Lenz vom zweiten Rang, vom Olymp auf
seine Widersacher hinunter, aber die fanden es garnicht mehr nötig, zu ihm
aufzusehen: sie zählten ihn zu den Toten. Die Kassenhalle aus nachgemachtem
Marmor gab dem Theater das Ansehen eines öffentlichen Bades. Ich war jedes-
mal erregt und niedergeschlagen. Die Aussicht auf das Schauspiel beflügelte
mich, aber die sichere Vorahnung der Enttäuschung drückte mich nieder. Zwi-
schen den kalten Wänden wärmte wohl Theaterluft, aber sie versprach nicht
mehr als sich selbst, ein bürgerliches Spektakulum. Ich wandte mich zum Kas-
senschalter, ängstlich im Herzen, hochgemut im Gesicht, ich blickte Fräulein
Mannhart, die hinter der Kassiererin stand und die Verteilung der Freikarten
überwachte, fest und fordernd an und war überzeugt, daß sie mich nicht
mochte. Zuweilen biß sich mein Blick in ihren Zügen fest, nicht feindlich, ich
hatte nichts gegen Fräulein Mannhart und wollte sie nicht verletzen, aber der
Gedanke, daß sie mir etwas antun konnte, ließ sie mich neugierig betrachten,
denn die Neugierde auf ihr Leben, die ich in Wahrheit garnicht empfand,
führte von meiner Person fort zu ihr, und ich suchte in ihrem etwas teigigen
fraulichen Gesicht die Wahrheit des Klatsches, der über sie im Theater ver-
breitet war, und ich fragte mich, warum Emanuel mit Fräulein Mannhart ge-
schlafen haben sollte und nun in seinem Büro Eifersuchtsszenen von ihr erdul-
den mußte. Nie kam mir der Gedanke, daß Fräulein Mannhart leide. Ihre viel-
besprochene Affäre langweilte mich, aber vor dem Kassenschalter, wenn ich
meine Karte forderte und in dieser Hinsicht von Fräulein Mannhart abhängig
war, fand ich ihren Anspruch auf Emanuels Treue lächerlich, ja, daß er sie