MID355-M033-001I

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

Archivmappe
MID355-M033
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)" 26
Kopie
nein
Durchschlag
nein
836 Wolfgang Koeppen
unter der Flußhaut trieben wie faule Baumstämme phosphorisierend die alten
Leviathane des Buchs der Bücher. Auch Platon trat an mein Bett: gar oft Eche-
krates, hatte ich Sokrates schon bewundert, doch nie so wie jetzt. Grüne Tapete!
Wer sie kleisterte, lag im Spital oder war tot. Schimmel grünte: da war meine
Burg, war mein festes Lager, war der Matratze Berg und Tal. Über Eck stand
das Bett meiner Mutter, es war leer an diesem Abend und zu dieser Stunde,
und später war das Bett meiner Mutter immer besetzt, und dann war es immer
leer, bis ich es oder es mir weggenommen wurde, oder es verloren ging.
Dann war noch der Tisch da, an dem wir saßen, wenn meine Mutter da war
und wir etwas zu essen hatten, oder an dem wir nur saßen, wenn wir nichts
zu essen hatten, nur so, und manchmal redeten wir miteinander und manchmal
nicht, und wir verstanden uns und verstanden uns nicht. In dem Schrank war
das Brot wenn wir Brot hatten, und meine Mutter hatte den Schrank abge-
schlossen bevor sie zur Arbeit gegangen war, damit ich das Brot nicht aufessen
könnte, aber ich hatte einen Nagel und hatte ihn gebogen und platt geschlagen,
und mit dem Nagel konnte ich das morsche Schloß des alten Schrankes öffnen,
und ich nahm das Brot und biß in das Brot und stopfte das Brot in mich hinein,
und es würgte mich, weil meine Mutter weinen würde. Eine Glühbirne hing
an der Litze unter der niedrigen Decke, sie glühte schwach und durfte nicht
glühen, ich sollte schlafen oder in die Finsternis starren, wenn ich Licht hatte,
verschwendete ich es, meine Mutter konnte das Licht nicht absperren, und dann
kam der Mann mit der Rechnung, der es den elek= trischen Strom absperrte, und wir saßen beide im
Dunkel, meine Mutter und ich, und eine Frau, die zu uns gekommen war, hatte
die Glühbirne nackt genannt, ein nacktes Licht, das gefiel mir sehr, nackte Glüh-
birne, nacktes Licht, sie bauten ein Zelt, draußen war die Stadt, war der Feind,
war der Feind auf dem Feld, waren Wölfe und Jäger im Wald, und auf der
zerrissenen Wolldecke, in die ich mich gehüllt hatte, lagen die Bücher aus allen
Bibliotheken der Stadt und der Universität, und Pastor Koch, der die Bücher
sah, sagte, du bist doch kein Bolschewist, und ich sah ihn an und zählte die
Schmisse in seinem roten vollen Gesicht und fragte, was ist ein Bolschewist,
und ich blickte durch ihn hindurch vielleicht bis nach Rußland hinein, und dann
lagen da die Zeitschriften, auf die unsere Stadt lüstern war und die ich für Alts
Buchhandlung austrug, und sie hießen »Der Junggeselle«, »Das Bunte Maga-
zin«‚ »Das Neue Leben«. Ich hätte lernen können, wie das Leben ist. Ich lernte
es nicht. Ich wußte nicht, wie Mädchen aussahen und ob sie so aussahen, wie
sie auf den Bildern des Neuen Magazins aussahen mit wenig oder mit nichts
an und wie Knaben, die heimlich nackt baden und sich erregen, und die Mäd-
chen waren glatt wie die Rücken der Knaben, und wenn ich im Schulhof die
Mitschüler gemieden hatte, so mochte ich jetzt doch mit einem ringen, nackt
und um keinen Preis, und ich suchte ihn und fand ihn nicht, und die Mädchen
waren auch üppig, und ich liebte sie nicht und haßte sie nicht, ich streifte mein
Hemd ab, es war mein einziges Hemd, ich trug es in der Nacht und trug es am