Erstausgabe (1976) Sequenz 44

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
44
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Sie hatten ihn erschlagen, sie hatten ihn im Wald erschlagen, er hatte um Hilfe geschrien, vielleicht hatte er auch nicht um Hilfe geschrien, denn er wußte ja, daß alle Ohren taub waren und einer hatte einen Spaten, einen Feldspaten mit kurzem Stiel, die Waffe, die die Generäle überrascht hatte, mit der die Generäle nicht fertig geworden waren, die den Krieg entschieden verloren oder gewonnen hatten, sie konnten den Spaten am Koppel tragen, und sie trugen ihn gern am Koppel, auch als sie nicht mehr dazu gezwungen waren den Spaten am Koppel oder sonstwo zu tragen, und sie hätten gehen können, wohin sie gewollt hätten, auseinanderlaufen, von der Fahne fort, die es schon lange nicht mehr gab, aus der erzwungenen Gemeinschaft weg, vom Regiment des Todes, aber sie wollten nicht auseinanderlaufen, nicht von der Gemeinschaft weg, vom Tod und dem Befehl, sie fürchteten, ihre Körper könnten verlorengehen in der Freiheit, hinweggezaubert werden, plötzlich nicht mehr da sein, sie brauchten ein Koppel um den Leib und ein festes Schloß mit Gott für König und Vaterland oder nur mit Gott mit uns, und einer schlug mit dem Spaten auf ihn ein, von hinten, sie hatten ihn vorangehen lassen, sie trotteten durch den <110>Wald, der eine traf seinen Hinterkopf gut und von hinten, dann fiel er, fiel auf den Waldboden, fiel in das Eichenlaub das Lindenlaub die Buchenblätter das Birkenholz, er schmeckte noch das Moos, bitter, und vielleicht hätte er Kresse gemocht zum Karpfen oder zum Heilbutt, wenn er Pastor geworden wäre wie er Pastor hatte werden wollen, am Karfreitag oder am Heiligen Abend nach dem heiligen Abendmahl nach der Predigt, und sie drehten ihn auf den Rücken und traten ihn mit ihren genagelten Marschstiefeln, die zurückmarschiert waren von Verdun, Brest-Litowsk und Gallipoli, sie marschierten vorwärts mit ihren genagelten Marschstiefeln in sein Gedärm hinein, zerquetschten seine Brust, stampften die Marschnägel der Knobelbecher auf seine Augen, bohrten die metallbeschlagenen Stiefelspitzen in seine gespaltene Stirn, sahen schließlich, was sie sehen wollten, sein Hirn, begriffen nichts, blickten stumpf auf graue Zellen, auf den Abfall eines Menschen, der gehabt hatte, womit sie nicht gesegnet waren, Einmaligkeit, Verstand, ein Herz, eine Zunge zu reden, den Glauben an die Unsterblichkeit seiner Seele, der mutig gewesen war, nicht nur vor Verdun, nicht nur auf Befehl, den der Tod geschmerzt hatte, wo er ihn erblickte, der Verwundungen erlitten hatte, sichtbare und unsichtbare, und der in sich gespeichert hatte die Schätze seines menschlichen Erbes, Bibliotheken von Ephesos, von Babylon, von Alexandria, die Bergpredigt, die Freiheit eines Christenmenschen im <111>Pfarrhaus besprochen, die Menschenrechte aller Menschen, die lateinische die griechische die hebräische Sprache, Tolstoi im Wintersturm ein armer Bauer auf Jasnaja Poljana und der ferne Sturm der O-Mensch-Rufe an Berliner Kaffeehaustischen, und dann gruben sie ihn ein, wozu hatten sie den Spaten, sie mühten sich nicht sehr, sie höhlten das Loch mit dem blutbeschmierten Eisen, oberflächlich, sie hatten nichts zu fürchten, sie fluchten nur über die Wurzeln der Bäume, die sie hinderten, sie hackten mit dem Spaten in die weitverzweigten Wurzeln hinein, sie gaben seinem Leichnam den letzten Tritt in die Grube, sie scharrten ihn zu. Hier lag ein Hünengrab. Ein Fuchs fand sein Fleisch. Oder ein Eber. Er war ihnen zu mager.