Erstausgabe (1976) Sequenz 37

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
37
Kopie
nein
Durchschlag
nein
der Park von Putbus und im Hintergrund das Schloß des Fürsten von Putbus, und das Schloß sieht genau wie das Schloß des Fürsten von Putbus auf der Ansichtspostkarte aus, die sie am Eingang des Parkes verkaufen, für zehn Pfennig eine schwarzweiße, nein eine graue nebelfleckige Natur, für zwanzig Pfennig das weiße Schloß unter azurblauem, fast tropischem Himmel auf einem stechendgrünen Rasen. Das Schloß ist nicht klein und nicht groß, es ist hell angestrichen wie mit blendendem Kalk beworfen, es ist ein sehr hübsches weißangestrichenes Schloß, und für die Insel Rügen und für Pommern ist es Versailles oder Sanssouci oder sonst so <86>etwas. Auf dem schwarzen Schieferdach des Schlosses weht die Standarte des Fürsten, der Schullehrer des Ortes Putbus sagt, das Banner seiner Hoheit ist gesetzt, die Kurgäste flüstern, der Fürst ist zu Hause. Was ahnen die Kurgäste? Der Fürst speist von goldenen Tellern, des Fürsten Krone ist in das Tischtuch gestickt, die Schüsseln, das schwere Besteck tragen des Fürsten Wappen, der Fürst regiert, aber wen regiert er? der Fürst schläft, er umarmt die Fürstin, er zeugt den nächsten Fürsten von Putbus, der nicht herrschen, der fallen wird, gemeuchelt unterm Schnee, verscharrt im Wüstensand, begraben im Eis der Fjorde, versenkt in die Tiefe des Ozeans. Der alte Fürst liebt eine Mätresse und zeugt einen Schriftsteller oder einen Minister oder einen Volksverderber oder einen Hotelbesitzer, aber manche der Einheimischen sagen auch, ons Först is dood. Der Park ist nach englischer Weise angelegt, der Fürst oder die Fürstin oder ihre Ahnen oder der Architekt, den sie bezahlten oder nicht bezahlten, oder irgendwer, der ihr Ohr erreichte, ein Einflüsterer, ein Schmeichler, ein Bodenspekulant, vielleicht ein echter Engländer, der homosexuell und emigriert war und seine Erinnerung an den Hydepark bekämpfte oder pflegte, vielleicht an einem Knaben mit einem Mädchenteint, oder ein Milchmädchen knäbischen Gesichts auf den regennassen kurzgeschorenen Rasen geworfen und vergessen oder nicht vergessen – sie alle liebten und über alles die Natur. In den weiten Lichtungen sollten <87>Rehe weiden. Rehe weideten auch dort, kamen zutraulich heran, ließen sich füttern mit verschimmeltem Brot aus der Hand ihrer Feinde, die Rehe schnupperten, prusteten mit feuchten Lippen über die hingehaltene selbstzufriedene Hand, doch man sieht keine Rehe mehr, die Rehe sind verschwunden, geraubt, geplündert, mit dem Armeegewehr erschossen, von Handgranaten erledigt, bei Nacht geschlachtet, vielleicht hat der Fürst sie gefressen, während die Standarte seiner Hoheit und seiner Anwesenheit auf dem Dach seines Schlosses wehte, vielleicht aßen auch andere die Rehe, taten sich am Rehfleisch gütlich, während der Fürst vor gedeckter Tafel, vor leeren goldenen Tellern im Prunksaal ohne Feuer und ohne Licht saß und auf die Schüsse lauschte, auf die Explosionen der Handgranaten vor seinem Haus, in seinem Park, bei seinen Rehen, die er liebte und nicht schlachten wollte, und vielleicht geschah dies alles während der Fürst starb. Die Wege des Parkes sind sorgsam mit Sand bestreut, der von der Ostsee angespült, von Tagelöhnern hergekarrt wurde und hier sehr ordentlich aussieht. Der Sand ist weiß, feinkörnig, meergewaschen, manchmal knirscht eine zertretene Muschel, und immer ist ein alter Mann beschäftigt, der dem Fürsten ähnlich sieht und vielleicht sein Bruder ist, die Pfade zu harken. Wenigstens in der Saison. Meine Mutter sitzt im Park auf einer Bank, die der Schloßverwaltung oder dem Kurverein gehört. Meine Mutter schreibt. Sie schreibt keine Ansichts<88>postkarte, sie transportiert nicht das Schloß des Fürsten von Putbus nach Hause oder in die weite Welt. Keine Grüße aus der Sommerfrische. Auf ihren Knien ruht ein abgegriffener Band, eine Sammlung von Fingerabdrücken, von Erinnerungen an fremde, unachtsam verschlungene Mahlzeiten, Brandflecken mißmutig verpaffter Zigaretten, der Klavierauszug einer lustigen Operette, und auf dem schäbigen alten Klavierauszug liegt ein Bogen gelblichen Kanzleipapiers, den meine Mutter irgendwo gefunden oder mitgenommen hat, und sie schreibt mir: verhungere, wenn du verhungern willst, wenn es deine Bosheit ist, mir dies anzutun, ich kann dir nicht helfen, wenn du dir nicht hilfst, und sie entschließt sich zu schreiben, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, und es ist der Gott Luthers und des kleinen Katechismus und seinerehebettreu sich vermehrenden Prediger die untertan der Obrigkeit, und sie blickt zum Himmel hoch und weiß, daß dies ein Gestöhn der Hilflosigkeit ist oder, von anderer Hand gesetzt, aus anderem Mund gesprochen, der Hauch der Kälte. Auf den Parkwegen promenieren die Kurgäste, weil sie dazu hergekommen sind. Die Röcke der Frauen sind nach dem Morden kurz, sie enden gleich unter dem Knie, das ist neu, man findet es unerhört, eine Errungenschaft des Verfalls, ein Zeichen für das Weltende, und die alte Fürstin von Putbus macht die Mode nicht mit, ihre Röcke, Unterrock und Oberrock, fegen noch immer den Sand, hinterlassen eine deutliche Spur ihres <89>Vorüberschreitens wie einst in Potsdam im Ehrendienst der Kaiserin oder am Hof der Zarin, sie ist tot, von einem Strudel verschlungen, einem Ungeheuer verspeist, und die Männer zeigten noch Würde, trugen sie erhobenen Hauptes, hoch behütet, kragensteif, über dem Bauch goldgekettet und alles Unaussprechliche unter Schwalbenschwänzen und anderen Schößen wie in einen Sack gesteckt, so schritten sie aufrecht auf ihre Zukunft zu, die unglaublich fern und unsagbar dreckig, nur Kassandra erkennbar, in einem stolzen blendenden Licht das Grab verbarg, die großen neuen Leichenfelder. Meine Mutter ist noch jung. Auch ihr Rock ist gekürzt. Meine Großmutter hätte den Rock nicht gebilligt. Der Rock ist zerdrückt und fadenscheinig, er ist aus einem schäbigen billigen Stoff, einem Stoffersatz geschneidert, aus Brennesseln vielleicht, eine Erfindung der großen Zeit und von ihr übrig geblieben. Die grauen Zwirnstrümpfe meiner Mutter zeigen Löcher; einige sind gestopft, zum Stopfen der anderen reichte der Faden oder die Stunde nicht. Die Sohlen meiner Mutter Schuhe sind durchgetreten, die Absätze schief. Der Kragen und die Manschetten der Bluse meiner Mutter sind schmutzig. Meine Mutter besitzt keine zweite Bluse. Manchmal wäscht sie die Bluse in der Waschschüssel auf dem Waschständer in ihrer engen Kammer bei des Fischers Frau, der Fischer, zum Butt geschickt, blieb im Skagerrak, aber meine Mutter kann die Bluse nicht immer waschen. Auch ihr entflieht die <90>Zeit. Die Kunst beansprucht sie. Es ist aber nicht die Kunst, es ist das Schicksal. Meiner Mutter Gesicht ist so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz, erstarrt und zerschrunden wie die Haut auf Dr. Oetkers Götterspeise aus entrahmter Milch, meine Mutter ist gejagt, sie ist am stürzen, sie fühlt es, ist am Ende. Der Tod steht hinter dem Baum, kein Freund, kein Feind, eine Amtsperson, verknöchert. Meine Mutter hatte auf vielen Ämtern vorzusprechen. Ihre Hand, die den Bleistiftstummel über das gelbliche Kanzleipapier führt und mich in die Verdammnis stoßen will, der sie nicht Herr wird, zittert. Meine Mutter sitzt in einem Käfig. Der Käfig ist eng. Er hat drei Wände, und die drei Wände schließen sie ein. Die vierte Wand fehlt. Die Luft in dem Käfig west nach Hobelspänen, nach Tischlerleim, nach roher Leinwand und scharfer Farbe, vor allem nach Staub. Die Luft dunstet auch von heißen Füßen in für die Jahreszeit zu festen und zu lange getragenen Schuhen. Der gepriesene Himmel der Badegäste ist nicht zu sehen. Die schöne Ostsee ist auch nicht zu sehen. Vom Sommer ist hier nur die Hitze zu spüren und fällt schwer in den Keller, den Käfig, in dem meine Mutter sich nicht rühren kann. Eine Glühlampe glüht grell und heiß über ihrer Stirn. Meine Mutter beugt sich aus dem Käfig vor und flüstert; aber mit einem Flüstern, das ein flüsterndes angestrengtes Schreien ist. Meine Mutter sitzt im Soufflierkasten des fürstlichen Putbuser Sommertheaters und <91>liest laut den Klavierauszug und spricht scharf flüsternd den Text der lustigen Operette. Die Sänger haben ihre Rollen nicht gelernt. Sie schwimmen, wie sie es nennen. Stumme Fische. Stummes, staubbahniges gefirnistes Aquarium. Aus der Schau meiner Mutter gesehen, wenn sie über den Klavierauszug blickt, nur Füße und die Füße verstaubt und feucht und arm. Erst wenn meine Mutter zu den Sängern aufsieht, beschwörend das Wort ruft, das sehnlich erwartete, das lustige, diesmal voranbringende, erkennt sie die Gesichter der Akteure. Hungrige Gesichter, wütende, mitleidlose; sie fordern von meiner Mutter das Leben. Denn auch sie, die Elenden sind aus Lehm gefügt und verlangen, durch einen Atem belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist herrisch, arrogant, eingebildet, vorwurfsvoll, die Gesichter der Sänger klagen an, weil ihre Ohren oder ihr Gedächtnis oder ihr Verstand die Sätze, die meine Mutter flüstert oder schreit, nicht empfangen oder nicht begreifen. Die Sänger öffnen den Mund, aber sie singen nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt, wieder zu schließen; meine Mutter blickt in kleine schwarze Löcher unsäglicher Torheit, und die Augen der Sänger wandern oder stechen, sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht sich erschlaffend hin. Am Himmel, der so fern ist, versammeln sich Gewitter. Der Regisseur schimpft, er schläft mit der Soubrette, er schimpft nicht mit der Soubrette, die alte Bettstelle knarrt, die Zimmer vermietende Fischerswitwe horcht und erregt sich hin<92>ter der aus Holz gefügten dünnen Wand, das steinschwere Federbett wird von verschwitzten Gliedern zurückgestoßen, die Nacht beklemmt in der Mansarde, wer in den Tropen war oder was über Tropen las, mag denken: Lianenwald, die Nacht wetterleuchtet, das Schwein grunzt in der Witwe kleinem Stall, trüffelt den nassen Soubrettenleib, Quell unter feuchtem Moos, Moder wie in einer Grabkammer, das Stichwort nicht vernommen, leichenweißes gepudertes Gesicht, Rinnsale von Hitze und Angst, kein Begreifen, natürlich nicht, woher begreifen? der Regisseur schimpft nicht mit den Sängern, Kollegen setzen sich zum Skat, der dritte Mann gibt, die Kiebitze glotzen, wissen es besser, lustvoll einen Korn genommen und noch ein Bier, was sind das für Männer in ihren Hosen, sind auch Soldaten gewesen, mit Auszeichnung gedient, im Baltikum, nein beim Fronttheater, der Regisseur schimpft zu meiner Mutter hinunter, wer arm ist, sitzt unten, er wird erhoben werden, sagt Pastor Büttentien, Hofprediger zu Putbus, der Regisseur hüpft in die Luft, wahrlich, Gott ergreift ihn, er macht nun den Buffo, hopst umher, Schwenkebauch, nun alle, untergefaßt, Arm in Arm, das Universum noch einmal in die Schranken gefordert, und das Bein hoch, rot in die Fußrampe getreten, Heiligenscheine aus den Soffitten. Wirbel des Finale, die Liebe die Liebe ist eine Himmelsmacht