Erstausgabe (1976) Sequenz 08

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
8
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Unsere Kleider waren vom Regen naß. Das Gewitter war gewandert und grollte neu. Wir schwitzten unter unsern durchweichten Hüllen. Das Wasser dampfte über den Pflanzen in der schweren feuchten Luft. Die Bäume weinten. Der Friedhofsgärtner führte uns in die Gruft, in eines seiner vornehmen Häuser auf dem schönen alten Friedhof. Die Häuser des Friedhofsgärtners hatten Eingänge aus griechischen Säulen, die den spitzen Giebel vor dem Dach trugen; doch es waren sehr niedrige, es waren recht kleine Häuser, in denen die Toten wohnten, die wohlhabenden Toten, die Toten, die zu den Reichen gehört hatten und nicht in die gemeine Erde kamen, nicht in den Keller verstoßen wurden, nicht in das modrige Loch, das ordinäre Grab, nicht unter die Wurzeln mußten, nicht zu den emsigen fleißigen schmatzenden Würmern hinab. Die Toten in den Totenhäusern entstammten den alten Vampirgeschlech<36>tern der Stadt, dem mächtigen Kreis der patrizischen Mumien, die immer ein würdiges Heim für ihre teuren Verstorbenen unterhalten hatten, exklusiv und in Furcht und doch in Hoffnung. Das Haus, in das wir eintraten, war unbewohnt, kein Toter ruhte aufgebahrt, kein Leichnam hielt Tafel. Vielleicht war die Familie, die unter diesem Dach humanistischer Bildung getrauert oder triumphiert hatte, ausgestorben oder verarmt oder verfemt, oder sie hatte nur den Halt verloren, den festen Glauben an sich selbst, die Selbstverständlichkeit des Besitzens, den großen Dünkel der Titel oder war einfach ehrfurchtslos geworden im Glück, gleichgültig gegen die Ahnen. Und wo der Tote geblieben war, sein Gerippe, das hier wohlangezogen gehaust hatte, wußte man nicht, oder wollte es nicht wissen, der Friedhofsgärtner war geschäftsgebunden mit im Komplott, vielleicht hatten sie bei Nacht des Urvaters Knochen hinausgeworfen auf den Friedhofsmüll, der Tote war exmittiert, der Scheck nicht eingegangen, die Miete nicht bezahlt worden. Nie zögerte die Stadt, einem Schuldner das Bett zu nehmen. Es waren aber Stühle zurückgeblieben in der Gruft, Sessel für die Trauernden, Throne für die lustigen Erben, vergoldete Sitze, doch das Gold war abgeblättert, wir sahen das wurmzerfressene bröckelnde Holz gleich verdorbenem madigem Mehl und darüber den Plüsch, der einmal königsrot gewesen war, purpurn, und nun in schmutzigen Flecken, Streifen und Schrammen sich auflöste über <37>gelbfahlen Wolken aus faulender Wolle. Wir waren von Tod und Leichenschmerz und Abschied und Geißelung und dem Blick in das offene Grab, dem Seilfall des Sarges erschöpft, daß wir nicht mehr weinten, nur, vom Regen geschlagen, des Friedhofsgärtners Findlinge wurden: die verwaisten Totensessel kamen uns zu, wir fanden sie weich und sanken in Schlaf in ihren verwesenden feuchten Polstern, ruhten im verratenen verfallenen Grab eines angesehenen Mannes, der Tote hatte uns Platz gemacht und gesellschaftlich aufgewertet, in der Sturmstille täuschte das morsche Boot, wir suchten Frieden im Hader. Der Totengräber und seine Gäste hatten nichts, einander zuzutrinken. Der Totengräber blickte erwartungsvoll auf das Kind in blauweißgestreiftem Kattun, den Matrosenkragen gestärkt. Efeu wird auf dem Grab wachsen und all die immergrünen Pflanzen für das ewige Leben, die strengen aromatischen knisternden Gerüche der Buchsbaumhecken werden die Trauer verschönen, die Totenglocke läutet, das Nebelhorn ruft, dem sinkenden Boot wird nicht geholfen werden, das Kiwitt des Käuzchens ängstigt die Mitternacht, die Äolsharfe im Garten ist des Richters Feind und das Staunen des Kindes wieder und wieder.